Poker, Blumen, Porno: So kam es zur Milliardenlüge um Wirecard
„Ich habe vollen Einblick in alle Geschäftsbereiche.“ Markus Braun
Ende 2018 war der Zahlungsdienstleister Wirecard rund 22,5 Milliarden Euro wert. Das war mehr als die Deutsche Bank und Red Bull. Oder anders gesagt: Mit diesem Geld könnte man in Österreich zwei Jahre lang die komplette Justiz, Polizei und das Bundesheer finanzieren.
Heute ist Wirecard pleite. Mehr als drei Milliarden Euro sind spurlos verschwunden (die Gläubiger fordern sogar 12,4 Milliarden Euro). Mehr als 10.000 Österreicher verloren fast 400 Millionen Euro. Der ehemalige Manager Jan Marsalek aus Wien ist in Russland untergetaucht, der österreichische Ex-Firmenchef Markus Braun muss sich ab kommender Woche vor Gericht verantworten.
In der Causa führen viele Spuren nach Österreich – in höchste Politkreise, zu teils dubiosen Firmen, zu Diplomaten, Ministerien und Geheimdiensten. Während es in Deutschland einen Untersuchungsausschuss gab, unterblieb in Österreich die Aufklärung.
Ein Rückblick: 1998/99 wird in München das Start-up Wire Card gegründet, mitten in der großen Dotcom-Blase. Geplant ist eine Art Online-Kreditkarte. Von den ersten eingesammelten Millionen der Investoren wird eine gleich bei einer Umstrukturierung versenkt, woraufhin der Projektleiter degradiert wird. Sein Name: Jan Marsalek.
Der Zahlungsdienstleister holt sich deshalb im Jahr 2000 Hilfe von der Beratungsfirma KPMG. Diese schickt einen ihrer besten Experten: Markus Braun. Dieser wird anschließend übernommen von Wire Card. Doch das Geschäft kommt nicht so richtig in Schwung. Mitten in Übernahmegesprächen gibt es einen Einbruch, vermutlich mit Hilfe eines Insiders. Gestohlen werden zwei Laptops - jene von Braun und Marsalek.
Moneymaker macht viel Geld
Als die Übernahme platzt, versucht Wire Card nach einer Insolvenz vor allem als Zahlungsdienstleister für Pornoseiten aktiv zu sein. Doch 2003 kommt es zu einem Glücksfall für das Unternehmen: Ein US-Hobbyspieler, der ausgerechnet Chris Moneymaker heißt, wird überraschend Poker-Weltmeister und damit zum Millionär. Plötzlich wollen zigtausende Amerikaner im Internet zocken. Das US-Recht verbietet aber Einzahlungen auf solchen Seiten.
Wire Card hat offenbar die Lösung: Es werden Tausende Blumenläden gegründet. Bei diesen kann man einzahlen, den Rest übernehmen Marsalek und Co. Geheimnis ist das keines, selbst österreichische Spieler bekommen bei einer Auszahlung Schecks von Blumenläden aus Florida. Ein Mittelsmann gibt an, dass er alleine Schecks über 70 Millionen Euro ausgestellt hat.
Später wird das Gesetz von Präsident George W. Bush verschärft, das FBI dreht im Zuge einer Razzia Betreiber wie Pokerstars und Fulltilt zu. Wire Card verliert sein Kerngeschäft. 2006 folgt die Umbenennung in Wirecard, im Jahr darauf wird das Unternehmen in den Aktienindex TecDAX aufgenommen. Gleichzeitig wird expandiert - nach Singapur und Dubai, später nach Australien oder Südafrika. Trotz Wegfalls von 90 Prozent des Geschäfts im Zuge der Pokerrazzia steigen die Umsätze. Zumindest auf dem Papier.
In den Jahren 2008 und 2010 tauchen anonym beziehungsweise durch eine Meldung auf einer Online-Plattform erstmals Verdachtsmomente auf. Beide Male bricht der Aktienkurs ein, erholt sich aber wieder.
Geheimdienste im Spiel
In dieser Zeit wird Wirecard für Geheimdienste wichtig. Denn diese interessieren sich besonders für dubiose Geldtransfers, da sie wissen wollen, wer Waffen oder Drogen kauft. Gleichzeitig benötigt Marsalek Personen, die gegen unliebsame Journalisten und Blogger ermitteln. Laut NDR fließen dafür über eine Million vor allem an eine russische, aber auch an eine österreichische Detektei.
Mit dem Erfolg öffnen sich viele Türen für die Verantwortlichen von Wirecard. 2017 sitzt der in Wien geborene Marsalek bei einer größeren Abendessen der österreichisch-russischen Freundesgesellschaft in Moskau neben Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka. Über die russischen Freunde dürfte Marsalek auch Kontakt zum damaligen FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus bekommen. Im Innenministerium von Herbert Kickl wird an einem Wirecard-Zahlungssystem für Asylwerber geplant.
Engen Kontakt pflegt Marsalek auch zu Martin W., damals die Nummer drei im Bundesamt für Verfassungsschutz (BVT). Die deutsche Justiz glaubt sogar, dass Marsalek als V-Mann eingesetzt wurde. Fest steht, dass sich der Top-Agent und der Wirecard-Manager am 18. Juni 2020, am Vorabend von Marsaleks Flucht via Flughafen Bad Vöslau nach Minsk, in München treffen. Der BVT-Mann bestreitet, Fluchthelfer gewesen zu sein, obwohl dabei geheimdienstliche Methoden angewendet werden.
Einen lukrativen Beratervertrag schließt Wirecard auch mit der Firma von zwei ehemaligen Kabinettsmitgliedern von Ex-Innenminister Ernst Strasser (ÖVP) ab, es geht um „Social Media-Reports“, dafür fließen 25.000 Euro im Monat. Inkludiert sind dabei auch informelle Treffen mit namhaften Persönlichkeiten, vor allem aus der Politik, aber auch der Exekutive.
Firmenchef Markus Braun wird außerdem Mitglied der Strategiegruppe Think Austria, die eine starke Nähe zum damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz hat. Kontakt gibt es auch zu einem Mitglied des Sicherheitsrats.
Formel für Giftgas
International für Aufsehen sorgt auch, dass Jan Marsalek vor Geschäftspartnern ein Geheimpapier mit der Formel des russischen Nervengifts Nowitschoks prahlt. Fix ist, dass diese aus einem österreichischen Ministerium stammt, gelagert war sie im Innen-, Außen- und Verteidigungsministerium. Ermittlungen laufen deshalb gegen den einstigen Generalsekretär und Spitzendiplomaten Johannes Peterlik, der eine Verwicklung dementiert.
Markus Braun bezeichnete sich selbst als „naiven Optimisten“, sein Traum war, dass Wirecard auf einer Stufe mit Weltkonzernen wie Facebook oder Amazon steht. Spätestens ab 2015 sollen dafür Bilanzen manipuliert worden sein, vermutlich aber sogar bereits ab 2008.
Braun und Marsalek waren wie Vater und Sohn, erinnert sich ein Wegbereiter in einerSKY-Dokumentation über den Fall Wirecard.
Erste Anzeigen
Als erster deckt ein deutscher Blogger namens Jigajig öffentlich Verdachtsmomente gegen das Duo auf und wirft Wirecard in Internetforen Betrug vor. 2010 erstattet auch ein Börsenprofi Anzeige bei der Staatsanwaltschaft München. Doch die Aufdecker werden mit Anwälten (und Drohungen durch mehrere Boxer) mundtot gemacht. Auch die deutsche Finanzmarktaufsicht BaFin wird aktiv – aber nur gegen jene, die einen Verdacht äußern.
Die Methode ist immer gleich: Jeder Aufdecker wird als Marktmanipulator dargestellt, der mit fallenden Kursen als Shortseller Gewinn machen möchte. Jahrelang geht das gut, die Behörden spielen mit. 2016 erscheint deshalb anonym der mehr als 100-seitige Zatarra-Report, der den mutmaßlichen Betrug enthüllt. Marsalek investiert angeblich 50 Millionen Euro, um den Urheber Matthew Earl ausfindig zu machen und zu überwachen.
Ins Visier gerät auch Financial-Times-Journalist Dan McCrum, der sechs Jahre lang unter dem Titel „House of Wirecard“ publiziert. Die Justiz ermittelt gegen ihn, die BaFin und sogar seine eigene Zeitung. Sein Computer wird gehackt, offenbar im Auftrag von Marsalek. Weitere Informationen liefert ihm der Whistleblower Pav Gill, Wirecard-Senior-Consultant in Singapur. Ihm fiel rasch auf, dass Gewinne in seinem Bereich viel zu hoch angesetzt wurden. Er stößt auf dubiose Zahlungen im Auftrag von Marsalek.
Auffällig war beispielsweise der Kauf von Great Indian Retail, einer indischen Gruppe für den Fahrkartenverkauf bei Bahnhöfen. Obwohl diese keine 30 Millionen Euro wert war, zahlte Wirecard 340 Millionen für eine Übernahme. Eine mutmaßliche Bilanzfälschung. Gill bohrt weiter und findet auch Rechnungen, die auf dem Computer eines Kollegen gefälscht worden sind.
Der Inder meldet dies an Braun. Wirecard startet interne Ermittlungen. Untersuchungsleiter Marsalek sieht keine Ungereimtheiten. Gill informiert deshalb McCrum.
Das Kartenhaus bricht zusammen
Als McCrums Bericht erscheint, gibt die Bankenaufsicht BaFin ein Statement ab: Mit Wirecard ist alles in Ordnung. Sie verbietet Spekulationen auf fallende Wirecard-Kurse und erstattet Anzeige - gegen McCrum. Doch er recherchiert mit einer deutschen Kollegin weiter, die beiden stoßen auf eine Wirecard-Partnerfirma in Dubai. Obwohl über diese Zahlungen in Milliardenhöhe abgewickelt werden, hat sie keinen einzigen Mitarbeiter. Offenbar ist alles nur erfunden.
Doch erst Anfang 2020 platzt die Bombe. 1,9 Milliarden Euro sind auf den Philippinen verschwunden, vermutlich hat es sie nie gegeben. Zum ersten Mal geht ein DAX-Unternehmen pleite.
Braun sieht Wirecard als Opfer eines gigantischen Betrugs.
Wenig später wird er verhaftet.
Fernsehtipp: „Wirecard – die Milliardenlüge“, bei den Streamingdiensten Sky X und Sky Q.
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