Erste Todesfälle bei chaotischer Flucht vor den Taliban aus Kabul
Die Massenflucht vor den Taliban aus Kabul hat über Nacht voll eingesetzt. Bilder aus Kabul zeigen völlig verstopfte Straßen. Augenzeugen berichten, die Menschen würden flüchten, ohne zu wissen, wohin. Am Flughafen von Kabul spielten sich chaotische Szenen ab, teilweise wurde das Rollfeld von panischen Menschen mit dem Ziel gestürmt, einen Platz in einer Maschine zu ergattern.
Dabei kamen nach Augenzeugenberichten mindestens fünf Menschen ums Leben. Hunderte Menschen sind seit Sonntag zum Flughafen gefahren und versuchen, auf Flüge zu kommen, wie in sozialen Medien geteilte Videos und Bilder zeigen.
Der Start mehrerer Flugzeuge verzögerte sich, weil die Rollbahn geräumt werden musste. US-Soldaten feuerten vereinzelt Warnschüsse ab. Am Montag verbreiteten sich in Kabul zudem Gerüchte, dass jeder, der es zum Flughafen schaffe, evakuiert werde, sagte ein Bewohner der Stadt.
Es gibt jedoch keinerlei Hinweise, dass diese Gerüchte zutreffen. Menschen kletterten über Drehleitern, um in ein Flugzeug zu kommen. Auch Afghanen, die nicht einmal Reisepässe hätten, würden ihr Glück versuchen, sagten Bewohner von Kabul.
Am Flughafen harren auch Angehörige westlicher Botschaften aus. Unter anderem die USA, Deutschland und Frankreich schickten Militärmaschinen, um sie schnellstmöglich auszufliegen. Am Airport warteten Minister, Regierungsbeamte und andere Zivilisten verzweifelt auf Flüge ins Ausland.
Streit um Plätze im Flieger
Mitarbeiter der US-Botschaft waren per Hubschrauber zum Airport gebracht worden. Die Aktivistin Rakhshanda Jilali, die von Kabul nach Pakistan fliegen wollte, sagte, das US-Militär habe am Airport die Flugsicherung übernommen. Nun würden Diplomaten ausgeflogen, während Afghanen warten müssten. Das sei nicht hinnehmbar.
"Gespenstische Stille"
In den Straßen Kabuls herrschte am Morgen eine gespenstische Stille. Geschäfte und Cafés blieben geschlossen. Es war nur mehr eine Frage der Zeit: Nachdem die Taliban im Eiltempo sämtliche Provinzhauptstädte in Afghanistan unter ihre Gewalt gebracht haben, sind sie am Sonntag bis zur Hauptstadt Kabul vorgerückt. Gegen Mitternacht verkündete die radikalislamische Gruppierung ihren Sieg.
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Afghanistan wieder in Händen der Taliban
Als dem US-Präsidenten Anfang Juli die Frage gestellt wird, ob er glaube, dass nach dem Rückzug der US-Truppen das Land wieder in die Hände der Taliban fallen könnte, antwortete Joe Biden mit fester Stimme: "Nein." Das sei nicht möglich. Schließlich bestünde die afghanische Armee aus 300.000 Mann, bestens ausgerüstet.
Vor wenigen Tagen noch hieß es in einer Einschätzung der US-Geheimdienste, Kabul könne noch mindestens drei Monate gehalten werden.
Beide sollten falsch liegen. Nachdem die Taliban im Eiltempo sämtliche Provinzhauptstädte Afghanistans eingenommen hatten, standen sie am Sonntag vor den Toren der Hauptstadt Kabul.
Um kriegerische Gewalt zu vermeiden, wurde die Stadt ohne großen Gefechte übergeben - "friedliche Machtübergabe" nannte es die afghanische Regierung. Präsident Ashraf Ghani floh ins Ausland - "Ich entschied mich zu gehen, um dieses Blutvergießen zu verhindern" - die Taliban besetzten den Präsidentenpalast.
29. Februar 2020
USA und Taliban unterzeichnen ein Abkommen, das einen Abzug der NATO-Truppen vorsieht. Die Taliban versichern im Gegenzug, dass von ihnen keine Terrorgefahr mehr ausgeht
12. September 2020
In Katar beginnen Friedensverhandlungen zwischen Taliban und afghanischer Regierung
14. April 2021
US-Präsident Joe Biden verkündet den kompletten Abzug der US-Truppen aus Afghanistan bis zum 11. September 2021. Der offizielle Abzug internationaler Truppen beginnt am 1. Mai
8. Mai 2021
Bei einem Anschlag auf eine Mädchenschule in Kabul sterben 85 Menschen. Die Regierung macht die Taliban für die Bluttat verantwortlich
8. August 2021
Parallel zum Truppenabzug nehmen die Taliban in Windeseile eine Provinzhauptstadt nach der anderen ein – nun fällt auch Kundus, wo die deutsche Bundeswehr jahrelang stationiert war
13. August 2021
Nach fast zwei Jahrzehnten übernehmen die Taliban wieder die Macht in Kandahar, der zweitgrößten Stadt Afghanistans
14. August 2021
Die Taliban stehen vor den Toren der Hauptstadt Kabul. Die Regierung kündigt eine friedliche Machtübergabe an, die Taliban sind gesprächsbereit. Die Verhandlungen sollen in Doha stattfinden
"Der Krieg im Land ist vorbei", sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim gegenüber Al Jazeera. "Wir haben das erreicht, was wir gewollt haben, nämlich die Freiheit unseres Landes und die Unabhängigkeit unseres Volkes." Zum weiteren Vorgehen äußerte sich Naim überraschend versöhnlich: man wolle mit allen Beteiligten Frieden, schütze afghanische Persönlichkeiten und diplomatische Vertretungen und suche den Dialog mit der Staatengemeinschaft.
"Wir bitten alle Länder und Organisationen, sich mit uns zusammenzusetzen, um alle Probleme zu lösen." Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen, aber auch Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen.
Gestern verkündete ein Taliban-Sprecher, die Rechte von Frauen würden respektiert, ihnen würde Zugang zu Bildung und Arbeit gewährt. Medien solle kritische Berichterstattung erlaubt werden. Man wolle "mit jedem Afghanen zusammenarbeiten" und ein "neues Kapitel des Friedens, der Toleranz" aufschlagen. In Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden, ist die Realität freilich eine andere. Mädchenschulen werden geschlossen, Frauen dürfen ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen. Unverheiratete Frauen werden mit Taliban-Kämpfern zwangsverheiratet.
Bilder und Videos in den sozialen Medien zeigen, wie Tausende Afghanen fluchtartig die Stadt verlassen wollen. Viele zieht es zum Flughafen, wo es vereinzelt zu Rangeleien kam, da Abflüge gestrichen wurden. Die NATO hatte zuvor erklärt, der Airport sei für den zivilen Flugverkehr geschlossen.
Der Flugbeobachtungs-Webseite flightradar24 zufolge flogen in der Nacht vereinzelt US-Militärmaschinen von Kabul ab. Die Aktivistin Rakhshanda Jilali, die von Kabul nach Pakistan fliegen wollte, sagte, das US-Militär habe am Airport die Flugsicherung übernommen. Nun würden Diplomaten ausgeflogen, während Afghanen warten müssten. Das sei nicht hinnehmbar.
Mehr als 60 Staaten haben die Möglichkeit zur sicheren und geordneten Ausreise aus Afghanistan gefordert. Afghanen und andere Staatsbürger, die das Land verlassen wollten, müssten dies tun dürfen, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Dazu müssten Straßen, Flughäfen und Grenzübergänge offen bleiben.
Evakuierung der US-Botschaft abgeschlossen
Die Evakuierung der US-Botschaft in Kabul ist nach Angaben des Außenministeriums abgeschlossen. Das gesamte Botschaftspersonal befinde sich auf dem Gelände des Flughafens von Kabul, dessen Umgebung vom US-Militär gesichert werde, erklärte das Ministerium. Von dort soll früheren Angaben nach ein Großteil des Personals ausgeflogen werden. Offen war, welche und wie viele Mitarbeiter noch in Kabul bleiben sollten.
Medienberichten zufolge war zuvor bereits die US-amerikanische Flagge auf dem Gelände eingeholt worden. Ende vergangener Woche hatte das Außenministerium betont, dass das Botschaftspersonal zwar auf ein Minimum reduziert werden sollte, es sich aber nicht um eine Evakuierung der Botschaft handele.
Zunächst hieß es auch, dass der Standort der Botschaft in Kabul erhalten bleibe. Dies änderte sich dann im Laufe des Wochenendes. Die militant-islamistischen Taliban marschierten am Sonntag in die afghanische Hauptstadt Kabul ein.
Evakuierung deutscher Staatsbürger aus Kabul begonnen
Indes hat die Evakuierung deutscher Staatsbürger aus Kabul hat begonnen. In der Nacht auf Montag landeten 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft mit einem US-Flugzeug in Doha im Golfemirat Katar. An Bord der Maschine waren auch vier Angehörige der Schweizer Vertretung in Afghanistan. Österreich hat kein Botschaftspersonal in Kabul, Afghanistan wird von Islamabad aus betreut.
Der erste Evakuierungsflug wurde mit einer US-Maschine absolviert, da die Bundeswehr erst in der Nacht zu Montag zwei Transportmaschinen vom Typ A400M vom niedersächsischen Wunstorf aus nach Kabul losschicken wollte. Sie sollen in den nächsten Tagen zentraler Bestandteil einer "Luftbrücke" sein, über die neben den Botschaftsmitarbeitern auch andere deutsche Staatsbürger sowie Ortskräfte, die für die Bundeswehr oder Bundesministerien in Afghanistan gearbeitet haben oder noch arbeiten, nach Deutschland gebracht werden sollen.