Türkiser Absturz: ÖVP präferiert "Koalition der Verlierer" mit SPÖ
Im Partyzelt der ÖVP herrscht kurz Jubel, als der türkise Balken auf 26,3 Prozent "schnellt". Das schlechte Ergebnis der Grünen bedenkt ein ÖVP-Anhänger mit einem kräftigen "Ja".
Danach ist die Stimmung in der Lichtenfelsgasse diffus. Das angepeilte "Foto-Finish" bleibt aus, die Türkisen liegen deutlich hinter der FPÖ, die auf rund 29 Prozent kommt und einen fulminanten Wahlsieg feiert. ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker meint in einer ersten Reaktion: "Es ist kein Geheimnis, dass wir Platz eins erreichen wollten." Personelle Konsequenzen soll es aber keine geben.
Nehammer spricht von "Aufholjagd"
Der erste Schreck verfliegt gegen 18 Uhr. Wildes Gedränge vor und im Partyzelt: Denn deutlich früher als erwartet hat Bundeskanzler Karl Nehammer die Bühne betreten. Er spricht von einer "Aufholjagd". Übernommen habe er die ÖVP bei 21 Prozent in den Umfragen. "Für die Zukunft müssen wir noch genauer hinschauen, warum Radikale mehr Stimmen bekommen", sagt Nehammer.
Er wolle Haltung zeigen und Problem lösen: "Das ist kein Parteislogan, das ist unsere Identität." Und: "Was wir vor der Wahl versprochen haben, gilt auch nach der Wahl", teilt Nehammer neuerlich einer Koalition mit FPÖ-Chef Herbert Kickl eine Absage. Es folgen "Nehammer, Nehammer"-Sprechchöre.
Fest steht: Die ÖVP wird auch in der nächsten Regierung sitzen. Da alle anderen Parteien die Freiheitlichen als Partner ausschließen, führt kein mathematischer Weg an einer türkisen Regierungsbeteiligung vorbei.
Nehammer hat im Wahlkampf "nur" eine Zusammenarbeit mit FPÖ-Chef Herbert Kickl ausgeschlossen, nicht generell mit der FPÖ. Vergleicht man die Wahlprogramme, dürfte der ÖVP ein Regierungsabkommen mit den Freiheitlichen auch einfacher fallen als mit SPÖ-Chef Andreas Babler. Vor allem die türkis-blauen wirtschaftspolitischen Programme sind beinahe deckungsgleich.
Präferenz für Koalition der Verlierer
Unter den türkisen Partygästen gibt es durchaus Befürworter einer neuerlichen Zusammenarbeit mit den Blauen. Mit der SPÖ oder in einer Dreier-Variante drohe Stillstand, meint ein ehemaliger ÖVP-Minister vor der ersten Hochrechnung.
Danach ist Grundtenor aber relativ klar: Sollte sich eine knappe Mandatsmehrheit mit der SPÖ ausgehen, sollte man eine "Große Koalition" versuchen, meinen hochrangige ÖVP-Funktionäre. Auch, wenn es eine "Koalition der Verlierer" sei, doch mit Kickl sei kein Staat zu machen. Um 20 Uhr kommen ÖVP und SPÖ zusammen auf 92 von 183 Mandaten. Schwarz-Rot würde sich also mit einem Mandat Überhang ausgehen.
Massive Verluste
Klar ist: Die Türkisen fuhren massive Verluste ein. Vor genau fünf Jahren, am 29. September 2019, gelang ihnen mit 37,46 Prozent ein fulminanter Sieg. "Wir feiern trotzdem", sagt Stocker. "Die Welt dreht sich weiter", sagt Außenminister Alexander Schallenberg. Beiden ist bewusst: Seit 2019 gab es massive Umwälzungen in der Partei.
Bundeskanzler Sebastian Kurz trat am 9. Oktober 2021 wegen Korruptionsermittlungen in der "ÖVP-Umfragenaffäre" zurück. Sein Nachfolger, Schallenberg, hielt sich nicht lange im Amt, weshalb am 6. Dezember 2021 Nehammer übernahm.
Der 51-Jährige findet sich mittlerweile in seiner Rolle zurecht, legt diese zumeist ruhig und staatsmännisch aus – ein Kontrastprogramm zu früheren, bissigen Auftritten als ÖVP-Generalsekretär oder Innenminister.
Ein Wahlkampf ohne Fehler
Während der TV-Duelle im Wahlkampf wirkte Nehammer teilweise sogar stoisch. Wie auch die anderen Spitzenkandidaten, hat er seine Wahlkampfauftritte aber ohne gröbere Aussetzer abgespult.
Politische Beobachter schlossen zudem nicht aus, dass das Hochwasser und Nehammers solide Performance als "Krisenmanager" die Wahl im Sinne der ÖVP beeinflussen könnten. Das bekannte Argumente: In Krisenzeiten schart sich die Bevölkerung eher hinter den Anführern. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat.
Wahlprogramm de facto seit Jänner bekannt
Die inhaltlichen Eckpfeiler hat Nehammer am 26. Jänner mit seiner "Österreichplan"-Rede eingeschlagen. Die ÖVP will Steuern und Abgaben, insbesondere die Lohnnebenkosten, senken. Gleichzeitig soll Vollzeitarbeit künftig besser bezahlt werden.
Einsparungen verspricht man sich von einer Reform der Arbeitslosenversicherung und Maßnahmen bei der Sozialhilfe, auf die Asylberechtigte im ÖVP-Modell erst nach fünf Jahren vollen Anspruch haben sollen.
KURIER-Redakteur Michael Hammerl befindet sich in der Wahlzentrale der ÖPV in der Lichtenfelsgasse.
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