Nehammer und die ÖVP hoffen wieder auf einen "Absturz ins Glück"
Glaubt man den Umfragen, wird die ÖVP bei dieser Nationalratswahl mit großem Abstand für einen Negativ-Rekord sorgen. Nie zuvor in der Zweiten Republik drohte einer Kanzler-Partei ein derartiger Absturz: Laut aktuellem APA-Wahltrend kommen die Türkisen über 23,7 Prozent nicht hinaus. Das wäre ein Minus von 13,76 %.
„Bei den Wahlen 2017 und 2019 war es dem damaligen Parteichef Sebastian Kurz noch gelungen, Wähler weit über die eigentliche ÖVP-Zielgruppe hinaus anzusprechen“, analysiert Politik-Berater Thomas Hofer. „Sie sind dann aber wie ein scheues Reh geflohen – und zwar noch vor dessen Abgang.“ Schuld sei die schlichte Fülle an eigen- und fremdverschuldeten Krisen gewesen, mit denen die Volkspartei konfrontiert war. Begonnen beim Schlingerkurs im Pandemie-Management über die Chat-Affären, die schließlich den Kurz-Rücktritt zur Folge hatten, bis hin zum Ukrainekrieg und der massiven Teuerung.
ÖVP hofft auf Schadensbegrenzung
Trotz dieser desaströsen Ausgangslage und eines Wahlkampfs, der in punkto Professionalität nicht ansatzweise an die Kampagnen der Kurz-Ära heranreicht, blickt man in der ÖVP paradoxerweise mit einer gewissen Zuversicht auf den 29. September. Ähnlich wie schon bei der EU-Wahl im Juni erhoffen sich viele Türkise – wie es Hofer formuliert – einen „Absturz ins Glück“. Sprich: Das Ergebnis könnte mit Platz zwei trotz aller Verluste weniger schlimm als befürchtet ausfallen und der Kanzlersessel gerettet werden.
Dies habe laut Experten vor allem mit den Problemen der SPÖ zu tun, die nach den jüngsten inneren Wirren in einer „Mobilisierungskrise“ stecke. Die Roten fallen daher in den Umfragen immer weiter hinter die zweitplatzierten ÖVP zurück, während sich diese im Windschatten der FPÖ halten kann. „Mit der Hoffnung, dass vielleicht sogar Platz eins noch möglich ist, lassen sich die eigenen Funktionäre mobilisieren“, ist Hofer überzeugt.
Im verbleibenden Wahlkampf werde die ÖVP daher wohl versuchen, mit der Botschaft „Nur wir können Herbert Kickl noch abfangen“, möglichst viele strategische Wähler an Bord zu holen. Wähler also, die alles andere als ÖVP-Fans sind, aber dann doch mit Bauchweh Karl Nehammer wählen, um die FPÖ als stimmenstärkste Partei zu verhindern. Auch mit der Beteuerung, dass man bei Themen wie Migration und Sicherheit ohnehin ähnlich restriktiv sei wie die Blauen.
Das Glaubwürdigkeitsproblem der ÖVP
Gleichzeitig sei die aber ÖVP-Warnung vor der FPÖ angesichts der türkis-blauen Koalitionen in Salzburg, Oberösterreich und Niederösterreich stark zu hinterfragen, gibt der Experte zu bedenken.
„Jedenfalls ist die ÖVP-Strategie sehr defensiv. Eine Zukunftserzählung ist hingegen kaum vorhanden“, lautet Hofers Befund. Eine solche wäre aber auch schwer zu verkaufen: „Die Regierungsbilanz, die Türkis-Grün hinterlässt, ist schon ein sehr schwerer Rucksack.“ So versuche man Nehammer als Repräsentanten der Mitte zu positionieren – im Gegensatz zu den „radikalen“ Kickl und Andreas Babler.
Doch können Nehammer und die ÖVP tatsächlich noch Platz eins erobern? Für Hofer ist dies angesichts der aktuellen Umfrage-Daten „nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich“. Zu solide sei der Vorsprung der FPÖ.
"Große" Koalition möglich
Allerdings: Selbst wenn sie nur auf Platz zwei landet, hat die ÖVP im Koalitionspoker recht gute Karten. Es könnte sich laut Hofer sogar knapp eine ÖVP-SPÖ-Zweierkoalition ausgehen, sofern die chancenreichsten Kleinparteien Bierpartei und KPÖ knapp am Einzug ins Parlament scheitern. Dann könnten schon deutlich unter 50 Prozent der Stimmen für eine Mandatsmehrheit reichen.
Bleibt die Frage, ob die ÖVP als zweite in eine Koalition mit der FPÖ unter einem Kanzler Kickl eintreten würde. Dies hat ja Nehammer bis dato stets ausgeschlossen. Hofer: „Er tut sich allerdings leicht, so etwas zu sagen, denn in so einer Regierung wäre er sicher nicht Vizekanzler.“
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