Sie wird oft heraufbeschworen, die Zeitenwende. In der Politik, in der Gesellschaft, im Zustand unseres Planeten allgemein. Sie dient Staatsoberhäuptern als Schlagwort und Esoterikern als Rechtfertigung. Der Dramatisierungsfaktor ist schließlich hoch. Tatsächlich epochale Ereignisse lassen sich wohl erst im Nachhinein als solche bewerten. Und irgendwie hat doch jede Zeit ihre Zeitenwende. Entweder würden diese immer rascher und in immer höherer Frequenz stattfinden, sagt Schriftsteller Clemens J. Setz im KURIER-Interview, „oder es ist eine unbefriedigende, wenig hilfreiche Beschreibung der Situation“.
Doch momentan scheinen sich die Anzeichen zu verdichten. Die Künstliche Intelligenz krempelt ganze Branchen um, rechtspopulistische Parteien sind in Europa im Höhenflug, der Kulturkampf um Gendern und Unisex-Klos artet aus, Klimakrise, Kriege und Migration spalten die Gesellschaft.
Zum heutigen Nationalfeiertag beleuchtet der KURIER sieben Bereiche, in denen sich eine Zeitenwende deutlich zeigt. Manchmal ist es eine Wende Richtung Vergangenheit, manchmal in Richtung Zukunft.
1. Rechtsruck in der Politik
Die Vorhut machten die Länder: die Nachbarländer. In Italien steht Giorgia Meloni nicht nur der rechtspopulistischen Fratelli d’Italia, sondern auch der Regierung vor. In Ungarn führt Viktor Orbán die Geschicke seiner Fidesz und die des Landes. Ebenso von Rechtspopulisten - wenn auch nicht in unmittelbarer Nachbarschaft - regiert werden die EU-Mitgliedsländer Niederlande (Partei für die Freiheit) und Belgien (Neu-Flämischen Allianz).
Der anhaltende Zuspruch zu Rechtsparteien manifestiert sich nicht zuletzt bei den Wahlen zum EU-Parlament. Keine Rede mehr von Ausnahmen - vielmehr sind Rechtsparteien allerorten gerade vorherrschend. Auch in Umfragen.
In Österreich haben sich die Umfragen mit der Nationalratswahl materialisiert
In Deutschland regiert die Ampel-Koalition (SPD, Grünen, FDP), die seit Monaten unter sinkenden Vertrauenswerten leidet, während die Alternative für Deutschland (AfD) aufholt. Derzeit rangiert die AfD in allen Umfragen auf dem zweiten Platz und damit vor der Kanzlerpartei SPD. Auf Platz eins ist die CDU/CSU – von der CSU-Chef Franz Josef Strauß einst sagte „Rechts von der Union darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben“.
In Österreich haben sich die Umfragen mit der Nationalratswahl derweil materialisiert. Fünf Jahre nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos stellen die Freiheitlichen mit 28,8 % erstmals die stimmenstärkste Fraktion im Parlament. Doch das historisch beste Ergebnis verhilft dem dritten Lager nicht aus der Opposition-Position auf die Regierungsbank. Der Grund dafür ist: der Bundesparteiobmann. War es 1999 noch Jörg Haider, der an der Spitze der Partei steht und für eine Regierungsbeteiligung auf den Vizekanzler verzichtet, ist es 2024 sein Nachfolger Herbert Kickl, an dem sich die Regierungsbeteiligung der FPÖ spießt.
FPÖ gilt als nicht regierungsfähig
Kickl gilt als „Sicherheitsrisiko“ (ÖVP), steht nach dem Dafürhalten seiner Kritiker für eine illiberale Demokratie – unter anderem, weil er mit Orbáns Regierungsstil sympathisiert – und gilt als nicht regierungsfähig.
Das jedenfalls attestieren dem FPÖ-Chef derzeit alle anderen Fraktionschef. Diese versuchen seit Freitag unter der Führung von ÖVP-Chef und Bundeskanzler Nehammer eine Regierung ohne Kickl zu bilden, denn: Im Gegensatz zu Haider will der Freiheitliche nicht zu Gunsten einer blauen Regierungsbeteiligung zur Seite oder gar zurücktreten.
Das ändert nichts daran, dass Menschen wie einst in der ÖVP-FPÖ-Regierungszeit unter der Kanzlerschaft von Wolfgang Schüssel donnerstags gegen die FPÖ demonstrieren.
Das problematische kategorische Ausschließen der FPÖ
Und das Nein zu einer Koalition mit Kickl ändert nichts daran, dass dem Erfolg der Freiheitlichen weit über die Landesgrenzen hinaus Beachtung geschenkt wird.
Die Associated Press (AP) nimmt die innenpolitischen Geschehnisse unter die Lupe, beschreibt sie in einer aktuellen Serie und kommt zum Schluss, dass mehrere westliche Entscheidungsträger und Verbündete befürchten, dass das Erstarken der FPÖ künftig den Austausch von Informationen Österreichs mit anderen Ländern erschweren könnte.
Das kategorische Ausschließen der FPÖ ruft indes auch Kritiker auf den Plan und zwar aus den Reihen der ÖVP und jenen Ländern, in denen mit der FPÖ regiert wird (Ober- und Niederösterreich, Salzburg). Als wahrscheinlich gilt, dass in Vorarlberg die FPÖ nach ihrem Wahlerfolg mit der ÖVP regieren wird. Als möglich gilt, dass die FPÖ bei der steirischen Landtagswahl am 24.11. als Gewinner hervorgeht. Auch oder gerade weil sie als Koalitionspartner im Bund ausgeschlossen wird.
2. Migration & Integration
Den „echten Wiener“, der einem als Argument in Debatten zum Thema Zuwanderung oft begegnet, den gibt es kaum. Die Bundeshauptstadt lebte schon immer von Durchmischung. Um 1900, als Wien mit 1,7 Millionen Einwohnern eines der größten urbanen Zentren Europas war, war mehr als die Hälfte der Wiener nicht hier geboren. Sie stammten unter anderem aus Böhmen, Galizien, Kroatien, Deutschland oder der Slowakei.
Und dennoch gehen die Emotionen derzeit besonders hoch, wenn es um Integration geht. Die Sprache in der Politik hat sich verschärft – und zwar nicht nur von rechts. Auch Grüne und SPÖ sprechen davon, die Zahl der Asylanträge senken zu wollen, oder erklären, dass man sich „an die Hausordnung halten muss, wenn man nach Österreich kommt“. Große Teile der Gesellschaft, oft auch liberal eingestellte, beäugen die Entwicklungen mit Sorge. Doch warum jetzt?
Die erste Zäsur gab es bereits 2015, bedingt durch die sogenannte Flüchtlingskrise. In den Jahren 2015 und 2016 lag die Zahl der Asylwerber jeweils bei rund 1,3 Millionen in Europa und war damit mehr als doppelt so hoch wie in den Jahren zuvor.
Vorbehalte und Angst
Während die einen Hilfsprojekte auf die Beine stellten, stiegen bei den anderen die Vorbehalte – und die Angst. Genährt unter anderem durch Vorfälle wie in der damaligen Silvester-Nacht in Köln, in der es zu Hunderten sexuellen Übergriffen kam – vornehmlich durch Männer aus dem afrikanischen und arabischen Raum.
An diesem Punkt kippte auch die Stimmung in Wien. Zuvor bekannten sich FPÖ-Sympathisanten oft nur heimlich im Schutz der Wahlkabine zu den Blauen, diese schnitten bei Wahlprognosen darum meist schlechter ab als am Wahltag selbst. Am 16. März 2016 aber demonstrierten plötzlich 1.500 Bürger aus ganz Wien unter der Schirmherrschaft der FPÖ im Bezirk Liesing gegen ein geplantes Flüchtlingsheim.
Die Furcht machte die FPÖ und öffentlich geäußerte Kritik an Migration quasi über Nacht salonfähig. Zum Zeitpunkt der Anti-Asylheim-Demo lebten 51 Flüchtlinge in dem Liesinger Heim. Danach waren es nie mehr als 400, hauptsächlich Frauen und Kinder. Während die FPÖ trotzdem Ängste schürte, fanden die anderen Parteien keinen Weg, diese den Betroffenen zu nehmen. Teils wegen fehlender Konzepte, teils aus Angst, selber als zu rechts zu gelten, scheute man sich vor dem Thema.
Ein schwieriges Jahr
Heuer wurden viele Probleme ersichtlich. Der vereitelte Terroranschlag auf die Taylor-Swift-Konzerte im Sommer und Meldungen über radikalisierte Jugendliche, eingebettet in eine angespannte weltpolitische Lage, führten zu Sorgen um die eigene Kultur, die eigenen Werte und Lebensweise.
Wochenlange Straßenkämpfe zwischen Afghanen und Tschetschenen in Wien beeinträchtigen das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung.
Die Lage im Bildungswesen verschärfte sich. Meldungen von Klassen, in denen 90 Prozent der Kinder nicht ausreichend Deutsch sprechen, häufen sich. Die Gemengelage aus einem generell hohen Migrationsanteil, aus der Ukraine geflüchteten Schülern sowie Kindern, die aufgrund des Familiennachzugs nach Österreich kommen und die oft noch nie eine Schule von innen gesehen haben, belasten System und Lehrpersonal.
Migration wird auch weiterhin ein Thema bleiben, nicht nur wegen der vielen kriegsbedingten Krisenherde. Auch die Klimaerwärmung, die insbesondere Entwicklungsländer hart trifft, wird zu weiteren Fluchtbewegungen führen.
Umso mehr wird es Lösungen brauchen, um die bestehenden und kommenden Herausforderungen zu meistern.
So sieht die Welt in anderen Bereichen aus:
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