Clemens J. Setz: Manchmal scheint es, dass das ein bisschen zu häufig gesagt wird. Es ist entweder so, dass solche „Zeitenwenden“ immer rascher und in immer höherer Frequenz stattfinden, oder es ist eine unbefriedigende, wenig hilfreiche Beschreibung der Situation.
Wie nimmt man sich als Schriftsteller einer derartigen Gemengelage an? Ist es für einen Schriftsteller von Vorteil, in einer Zeit epochaler Ereignisse zu leben und zu arbeiten? Sprechen Sie mit Ihren Studenten darüber? Nein, wir sprechen eher über das Geschichtenerzählen im Allgemeinen. Die geschichtenerzählenden Anteile von Politik beziehungsweise Berichterstattung über Politik könnten dadurch, im besten Fall, etwas transparenter werden.
Sie haben zehn Jahre an Ihrem Roman über einen Mann gearbeitet, der die Erde für hohl hält. Und sie haben sich lange vor der Pandemie mit Verschwörungstheorien auseinandergesetzt. Das galt doch immer irgendwie als kleine Nische für Spinner. Plötzlich sind Verschwörungstheoretiker zu einer ernst zunehmenden Wählergruppe geworden. Haben Sie das geahnt?
Viele Leitmotive einer beispielsweise asylfeindlichen Politik sind tatsächlich verschwörerisch (etwa: Invasoren, die schwache Europäer hassen, wollen, nach einem gemeinsamen ideologischen Ratschluss, Europa übernehmen und neu besiedeln, und reiche Eliten im Hintergrund steuern und fördern diese Entwicklung), aber solche Erzählungen von „wir Opfer versus unsichtbare, verschworene Macht im Hintergrund“ gibt es ja auch in ganz anderen Bereichen des politischen Spektrums. Was mich als Fragestellung bislang überfordert, ist: Warum sind „Wir das Opfer“-Geschichten so wahnsinnig wichtig für uns? Auch ich ziehe sie, in irgendwelchen Verkleidungen, ständig heran, um mir schnell etwas zu erklären.
Die Mutter aller Weltverschwörungen, die von der jüdischen Weltverschwörung, ist jetzt wieder sehr präsent. Hätten Sie so etwas je für möglich gehalten?
Sogar Hitler als konkretes Vorbild ist zurück. Auf Tiktok und X wird er hunderttausendfach als missverstandener Vordenker gefeiert. Das überrascht schon ein wenig. Aber wir leben eben in einer Southpark-Folge. Jüdische Menschen haben, wie es scheint, fast überhaupt keine Verteidiger mehr, weder von links noch von rechts. Viele rechtsextremere Strömungen sind zwar neuerdings sehr Pro-Israel, weil sie in dessen Kampf eine Behauptung der westlichen Kultur gegen eine gefährliche islamische sehen, aber glaubhafte Verteidiger oder Verbündete geben sie natürlich nicht ab.
Das Interesse und die Wertschätzung der Österreicher für Wissenschaft und Technologie ist im EU-Vergleich katastrophal niedrig. Woher kommt das, glauben Sie?
Das weiß ich nicht. Ich vermute, paradoxerweise, wohl aus einem verhältnismäßig hohen Bildungsgrad? Haben Sie eine Vermutung über die Gründe?
Vielleicht eine Mischung aus Kirche (bei uns gab es keine Aufklärung in der Form wie in Frankreich), Monarchie (samt Untertanentum, wo man nie direkt fragt, sondern mauschelt und vermutet) und Nazis, die ja viele jüdische Wissenschafter vertrieben oder gleich ermordet haben. Aber abgesehen von der Wissenschaftsfeindlichkeit: Was würden Sie als typisch österreichisch bezeichnen? Was macht Österreich heute aus?
Das Beharren darauf, dass selbst in den größten Schweinereien immer irgendwie so was wie der Beweis einer eigentlichen Liebenswürdigkeit mitschwingt.
Was macht eine Nation aus?
Eine gemeinsam gelebte Fiktion, in der bestimmte Rechte an ausgewählte Personen übertragen werden, zur Erhöhung der allgemeinen Sicherheit und der besseren Planbarkeit der Lebensläufe.
Haben Sie Kindheitserinnerungen zum Nationalfeiertag, früher auch „Tag der Fahne“ genannt? Haben Sie in der Volksschule auch Fahnen gezeichnet?
Ja, an das Fahnenzeichnen und -basteln erinnere ich mich schon. Ich fand auch die Herleitungslegende der Farben rot-weiß-rot, die man uns dazu erzählte, extrem irritierend, diese Geschichte über den Heerführer, der nach einer Schlacht voller Blut war und sich dann den Gürtel abnahm. unter dem der Stoff weiß geblieben war. Das ist als Mythos, wie soll man sagen, marvellously insane.
Die Österreicher begehen den Nationalfeiertag mit der interessanten Kombination aus Fahne hissen, Militärparade anschauen oder wandern gehen. Sie sind da irgendwo mit dabei?
Ja, ich marschiere mit Fahne in der Militärparade mit. Auf der Fahne sind drei Hasen dargestellt, die sich jeweils ein Ohr teilen. So marschieren wir gemeinsam, laut singend, direkt ins Meer hinein, ein jedes Jahr wieder erhebendes Erlebnis.
Wie erklären Sie Ihrem Kind den Nationalfeiertag?
Meine Tochter ist gerade zwei. Wenn ein Feiertag keine Geschenke bringt, bedeutet er ihr momentan noch recht wenig. Später einmal werde ich dann das mit den Militärparaden und den Hasen erklären.