Die entzauberten österreichischen Energie-Mythen
Bisher galt eine funktionierende Energieversorgung als garantiert und weitgehend leistbar. Doch der Ukraine-Krieg bringt gewohnte Sicherheiten ins Wanken – ist Aggressor Russland doch nicht nur mit Abstand der wichtigste Erdgaslieferant Österreichs, sondern mit seinen Exporten auch von Öl, Kohle und Uran (zur Nutzung in Atomkraftwerken, Anm.) für ganz Europa von entscheidender wirtschaftlicher Bedeutung.
Gabriel Felbermayr, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), warnte kürzlich vor "kriegswirtschaftlichen Zuständen" und einem "gewaltigen sozialen Konfliktpotenzial". Wenn über den Winter nicht genug Gas ankommen würde, könnte die Inflation auf bis zu 18 Prozent steigen, schätzt der Wifo-Chef.
Der Staat ist seit der EU-weiten Liberalisierung der Energiemärkte vor zwei Jahrzehnten nicht mehr für die Versorgung zuständig, sondern überblickt nur noch das Funktionieren des Marktes. Auf der "Insel der Seligen" wähnte man sich dennoch sicher, vielen dürfte der Paradigmenwechsel schlicht nicht bewusst gewesen sein.
Zuletzt haben sich einige Grundannahmen über den Energiesektor als Mythen entpuppt. Der KURIER hat sechs davon auf ihren wahren Kern abgeklopft.
Mythos 1: Wasserkraft macht autark und ist preisstabil
Wahr ist, Österreich hat einen hohen Anteil an erneuerbarer Energie. Die Wasserkraft steht für etwa 60 Prozent der heimischen Stromproduktion.
Allerdings ist auch sie Schwankungen unterworfen. Führen die Flüsse weniger Wasser, sinkt die Produktion.
Zum Erschrecken vieler ist Strom aus Wasserkraft auch preislich nicht stabil. Denn der Großhandelspreis von Strom richtet sich nach den Kosten der für die Aufrechterhaltung der Versorgung notwendigen Gaskraftwerke. Steigt der Gaspreis – wie heuer der Fall –, wird also auch Strom aus Wasserkraft teurer.
Mythos 2: Atomkraft-frei durch den Volksentscheid von 1978
Wahr ist, in Österreich wird kein Strom aus Atomkraft gewonnen. Das bedeutet aber nicht, dass wir keinen verbrauchen. Denn Österreich ist bei Strom Netto-Importeur. Insbesondere im Winter, wenn der Verbrauch steigt, während die erneuerbaren Energien weniger liefern, kann die Versorgung nur mit Importen gewährleistet werden.
Und etwa ein Viertel des europäischen Stromes kommt aus Kernkraft. Das Stromnetz ist europaweit verbunden, was Ausgleiche durch internationalen Handel ermöglicht. Kohle- und Atomstrom kommen damit auch nach Österreich.
Mythos 3: Unsere großen Gasspeicher sichern die Versorgung
Wahr ist, die österreichischen Gasspeicher sind groß und bereits etwa zur Hälfte gefüllt. Das Gas gehört aber nicht „uns“, sondern österreichischen und internationalen Unternehmen, die nach marktwirtschaftlichen Kriterien damit handeln. Der Staat baut gerade eine strategische Reserve auf, um für einen etwaigen Lieferstopp gerüstet zu sein.
Österreich importiert seit 1968 Erdgas aus der damaligen Sowjetunion, unabhängig vom Kalten und mehreren anderen Kriegen – etwa in Tschetschenien, Georgien oder Syrien. Jetzt setzt Russland die EU mit Energielieferungen unter Druck.
Mythos 4: Die Fernwärme in Wien funktioniert mit Müll
Wahr ist, dass die Wien Energie durch das Verheizen von Müll in Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen Strom und Wärme produziert. Allerdings reicht das bei Weitem nicht aus, um die Kunden zu versorgen. Deswegen beruht die Strom- und Wärmeproduktion von Wien Energie derzeit zu etwa 60 Prozent auf Erdgas.
Dieser Anteil soll als Beitrag zum Klimaschutz bis 2040 auf null sinken und ersetzt werden durch elektrische Großwärmepumpen, die Nutzung von Geothermie (unterirdische Heißwasservorkommen, Anm.) und grüne Gase wie Wasserstoff.
Mythos 5: Der Spritpreis steigt und fällt mit dem Ölpreis
Wahr ist, dass die Produktionskosten von Sprit steigen, wenn der wichtigste Rohstoff teurer wird. Einen direkten Zusammenhang gibt es dabei aber nicht. Wie die Bundeswettbewerbsbehörde festgestellt hat, geht ein Gutteil der Preissteigerung an den Zapfsäulen auf höhere Bruttomargen in den Raffinerien zurück.
Die Preise für Treibstoffe orientieren sich in Europa am Spotmarkt in der Region Antwerpen, Rotterdam und Amsterdam. Werden etwa Engpässe bei Diesel erwartet, steigen die Großhandelspreise. Die Tankstellen geben die Preiserhöhung an die Endverbraucher weiter.
Mythos 6: Wasserstoff wird alle unsere Probleme lösen
Wasserstoff gilt als Wunderwuzzi der Energiewende. Die potenziellen Anwendungsgebiete sind nicht nur in der Industrie, im Verkehr und in der Raumwärme, sondern auch als langfristiger Energiespeicher.
Allerdings ist nicht absehbar, woher Europa die Mengen, die dafür notwendig wären, bekommt – insbesondere, wenn das Gas nur mit Ökostrom gewonnen werden soll. Da neben technischen Problemen auch die Kostenfrage weitgehend offen ist, kann derzeit niemand wirklich abschätzen, wann Wasserstoff welchen Beitrag zu einer klimaneutralen Zukunft leisten wird.
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