Der Nachhall der Schüsse: Die Folgen des Anschlags auf die Synagoge in Halle
Die Tür zur Synagoge ist weg. Und mit ihr sind die Einschusslöcher und das gesplitterte Holz weg. Wer heute in die Humboldtstraße in Halle an der Saale (Sachsen-Anhalt) kommt, sieht dort eine neue Tür eingebaut: 65 Millimeter starke Eiche, sie soll noch stabiler sein als jene, die am 9. Oktober 2019 mehr als 50 Menschenleben gerettet hat.
Die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde feierten drinnen gerade Jom Kippur, den höchsten Feiertag, als ein 27-jähriger Rechtsextremer mit selbst gebauten Waffen und Helm-Kamera draußen auf die Türe schoss. Am Ende hielt sie den Kugeln stand, getroffen wurden andere: Jana L., eine 40 Jahre alte Frau, die den Täter auf der Straße vor der Synagoge anspricht; und Kevin L., ein 20-Jähriger, der 500 Meter entfernt im Kiez-Döner isst. Sie starben durch die Hand eines Mannes, der Juden und Muslime hasste und sie gezielt töten wollte.
Als wäre nichts gewesen
In Halle spürt und sieht man heute aber nichts mehr von den Tagen und Nächten, an denen sich mehrere Hundert Menschen am Marktplatz versammelten, Blumen und Kerzen niederlegten; Politiker vor der Synagoge und dem Imbiss Hände schüttelten, Hilfe versprachen.
In der 230.000-Einwohner-Stadt ist der Alltag zurück. Hallenser sitzen auf den Bänken vor der Kirche, ein paar Männer trinken Bier. Kinder spielen am Brunnen. Gegenüber dreht sich ein Karussell, an Ständen werden Eis, Crêpes und Wurst verkauft. "Don’t worry, be curry" steht auf einem Imbiss-Wagen. Ein paar Straßen weiter erinnert sich dann ein Buchhändler doch an die "gruseligen Tage" in der Stadt, wo alles abgeriegelt war. Aber bis auf den Prozess sei das jetzt kein so großes Thema mehr.
Ab Dienstag steht der Täter nach einer Pause wieder in Magdeburg vor Gericht. Er wird des 68-fachen versuchten Mordes sowie der gefährlichen Körperverletzung und versuchten räuberischen Erpressung mit Todesfolge angeklagt. Für Medien ist es ein schmaler Grat: Über einen zu berichten, der das Verfahren als Bühne nützt, selbstbewusst und mit rassistischen Parolen aufgetreten ist. Für die Richter ist es auch ein gesellschaftlicher Auftrag: Nämlich zu klären, wie es passieren konnte, dass sich einer radikalisiert, ohne, dass es jemand bemerkt haben will.
Worum es in all dem bisher weniger ging: Was macht das mit denen, die er eigentlich töten wollte? Wie hat sich ihr seither Leben verändert?
Schlafstörungen und Stress
Ismet Tekin bekommt das, was er vor knapp zehn Monaten miterlebt hat, nicht mehr aus seinem Kopf. Das Knallen der Geschoße, die an der Hauswand neben ihm einschlugen, als er sich hinter einem Auto versteckte, verfolgen ihn bis heute im Schlaf. Er hat seit dem Anschlag keine ruhige Nacht mehr gefunden und steht unter Stress.
Der 36-Jährige erinnert sich zurück an den Tag, der dies alles ausgelöst hat: Am 9. Oktober ist er auf dem Weg zum Kiez-Döner, seinem Arbeitsplatz, wo auch sein Bruder arbeitet und gerade hinter der Theke steht. In der Ludwig-Wucherer-Straße angekommen, sieht Tekin die Polizei und geht in Deckung. "Das kann man nicht vergessen, nur versuchen, aufzuarbeiten", erzählt er bei einer Tasse Tee.
Er arbeitet heute wieder im Imbiss, wirkt gefasst und etwas erschöpft. Wer den Laden betritt, sieht eine Wand mit Trikots, Wimpeln, Engelfiguren und eine Gedenktafel "Für Jana und Kevin". Der Lehrling und Fan des Halleschen FC sitzt im Imbiss, als der Täter reinstürmt und auf ihn schießt. Er habe ihn für einen Muslim gehalten, gab er nach seiner Festnahme zu Protokoll.
Ismet Tekin, kurdisch-stämmig, lebt seit zwölf Jahren in Halle, es ist seine "Lieblingsstadt", wie er betont. Natürlich hat er hier schon mal blöde Sprüche zu hören bekommen. "Idioten gibt es überall", sagt er. Doch dass einer reinkomme, um zu töten ... Kurz muss er eine Pause machen, um dann fortzusetzen: "Man muss ja nicht jeden mögen, aber deswegen muss man nicht hassen und zum Verbrecher werden."
Er macht sich sehr viele Gedanken darüber, was in Deutschland passiert. Einige Monate nach dem Anschlag in Halle, ermordete ein 43-Jähriger aus rassistischen Gründen neun Menschen in Hanau - er erschoss sie an mehreren Orten, bevor er sich selbst tötete. Tekin zweifelt daran, dass der Täter das alleine organisieren konnte, ebenso wenig jener in Halle. "Es muss alles herauskommen", sagt er mit Blick auf die Arbeit der Ermittler und den Prozess.
Unangenehme Ruhe
"Es ist nicht gut, dass es so ruhig ist. Die betroffenen Menschen empfinden diese Ruhe nicht", sagt Igor Matviyets, Mitglied der Jüdischen Gemeinde, aktiv in der SPD. Am 9. Oktober ist er gerade in der Arbeit, als auf seinem Handy die ersten Nachrichten von dem Anschlag aufploppten. Zu diesem Zeitpunkt ist noch vieles unklar, gibt es Verletzte, einen zweiten Täter? Klar war für ihn, dass er am nächsten Tag seine Kippa trägt, was er als säkularer Jude sonst nicht macht. Andere würden es hingegen vermeiden, weil sie Angst vor Anfeindungen haben.
Der 28-Jährige sitzt in einem Café, unweit von Synagoge und Kiez-Döner. Eine Gegend mit Studenten und Familien, die er als "Oase" bezeichnet. "Keiner könnte ungeachtet einen Hitlergruß machen, 30 Kilometer weiter ist das aber anders."
Sachsen-Anhalt ist eine jener Regionen, wo sich Rechtsextremismus in bürgerliche Strukturen integriert hat. Von hier aus dirigiert ein neurechter Vordenker Teile der AfD, verbreitet einer der reichweitenstärksten rechten Propagandisten via YouTube seine Thesen. Und die Landes-CDU sympathisiert in Teilen mit der AfD, die bei der Landtagswahl 2016 aus dem Stand 23,7 Prozent erreicht.
"Der Anschlag wird auf ein Minderheitenproblem reduziert"
Hier, im Kiez von Matviyets, hatte sie ihr schlechtestes. Die Identitäre Bewegung musste ihr Haus im Studentenviertel aufgeben. Der Versuch dort anschlussfähig zu sein, scheiterte. Dennoch fragt er sich, warum in der Stadt so schnell Normalität einkehren konnte: "Der Anschlag wird auf ein Minderheitenproblem reduziert. Es war für viele kein einschneidendes Erlebnis. Sie waren nicht Adressat des Hasses und sind nicht dafür sensibilisiert, wie groß antisemitische und rassistische Ideologien im öffentlichen Raum sind."
Zuletzt hat jemand vor dem Haus der Jüdischen Gemeinde ein Hakenkreuz aus Stoff aufgelegt, ein Polizist soll es vertuscht und weggeräumt haben. Die Staatswanwaltschaft ermittelt gegen ihn.
Matviyets überrascht der Vorfall nicht. Das Vertrauen der Gemeindemitglieder zu den Behörden ist nicht gut. Viele haben vor dem Anschlag versucht, Polizeischutz zu erwirken, ohne Erfolg. Immerhin steht heute eine Streife vor der Synagoge. Das mag das Sicherheitsgefühl mancher gestärkt haben, doch die Angst bleibt. "Ein Tag der offenen Tür, wo sich Gemeindemitglieder und Nicht-Mitglieder Seite an Seite eingefunden haben, wird nur noch unter Sicherheitsauflagen möglich sein."
Ewartung an den Prozess: Gesellschaftliche Aufklärung
Wenn der Prozess nun weitergeht, hofft er auf Aufklärung – dabei dürfe die juristische nicht mit der gesellschaftlichen verwechselt werden. "Man muss sich das Umfeld des Täters ansehen, aus dem er sich heraus solche Feindbilder suchen wollte. Dort, wo er aufgewachsen ist und ihm die Mehrheit nicht widersprochen hat und wo es das normale Grundrauschen ist, rechts und antisemitisch zu sein."
Wenn der Täter etwa im Supermarkt Kunden anschrie, die eine fremde Sprache gesprochen haben oder auf Juden und Ausländer schimpfte. Dabei kannte er keine, wusste auch nicht die Anzahl der Geflüchteten in seinem 2.000-Einwohner Dorf. Alleine, dass er dort niemandem aufgefallen ist, weil er nie gegrüßt hat, ist "ein Indiz für ein nicht-funktionierendes soziales Gefüge", findet Matviyets.
Kein breites Bündnis
Hoffnung, dass die Menschen näher zusammenrücken, hat er nicht. Gut erinnert er sich an jene, die nach dem Anschlag zur Synagoge kamen oder in der Pauluskirche, oben am Hügel, eine Andacht feierten. Es waren dieselben, die sich seit Jahren gegen Rassismus und Antisemitismus engagieren. Was er vermisst: Ein breites Bündnis aus Kirche, Unternehmen und Zivilgesellschaft.
"Es ist unser aller Verantwortung", sagte damals Halles parteiloser Bürgermeister Bernd Wiegand. Zivilcourage sei von jedem Einzelnen gefragt, jeder könne etwas tun.
Schwieriger Neuanfang
Etwas getan haben jene, die Ziel des Hasses waren. Menschen wie Ismet Tekin. Er hat mit seinem Bruder den Kiez-Döner übernommen. "Wir wollten beweisen, dass die Stadt stark und in der Lage ist, neu anzufangen", erzählt er. Wie schwierig das wird, konnte er nicht ahnen.
Nach dem Anschlag kamen weniger Gäste, dann mussten sie wegen Corona schließen. Bis heute bleiben Kunden aus, Miete und Fixkosten nicht. Tekin fühlt sich im Stich gelassen. Was ihm derzeit hilft: Der Zuspruch und die Solidarität vieler Menschen. Gerade vorhin war eine Frau von der Verischerung da, ging mit ihm freundlich alle Unterlagen durch. Später kommt eine Gruppe aus dem Kiez vorbei, die ihnen helfen, Flyer zu drucken oder Essens-Aktionen zu organisieren. Einige Menschen haben auch Briefe geschickt. Es tut ihnen sehr leid, steht da zum Beispiel drinnen. Die Worte berühren Ismet Tekin.
Der 36-Jährige will auf jeden Fall weitermachen. Er hat in der Gastronomie gelernt, jemandem Essen zubereiten und mit den Menschen reden, das bereitet ihm Freude, erzählt er und lächelt ein wenig. Gleichzeitig, sagt der Mann, kann er gar nicht anders: "Wenn ich jetzt aufgebe, komm ich nicht mehr hoch." Und da gibt es noch andere, für die er da sein muss: Seine Frau ist schwanger.
Was in Halle geschah, möchte er seinem Kind später einmal erzählen. Der 9. Oktober ist jetzt Teil seines Lebens, sagt er. Zum ersten Jahrestag soll auch die standhafte alte Türe in die Synagoge zurückkehren – als von Mitgliedern gestaltetes Kunstobjekt.
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