Mehrfache Virenwellen: Wie viele Menschen sind derzeit tatsächlich krank?
„Wir stecken mitten in der Grippewelle“, sagt die Virologin Christina Nicolodi. Die Infektionszahlen mit Atemwegsviren – besonders auch mit grippalen Infekten – schnellen in die Höhe, und das „schon sehr früh“. Das zeigen etwa die neuen Zahlen der Stadt Wien von der Vorwoche. Das zeigen auch die neuen Zahlen der Stadt Wien, die mit mehr als 23.000 Neuerkrankungen an Grippe und grippalen Infekten in der Vorwoche extrem hoch sind (siehe Grafik unten).
Sind derzeit tatsächlich so viele Menschen erkrankt?
Die Uni-Kinderklinik Graz versorgt derzeit 200 statt wie im Normalfall 110 Patientinnen und Patienten pro Tag ambulant, vor allem mit Grippe und RSV. Covid spiele in Graz bei Kindern derzeit keine Rolle, sagt eine Sprecherin des LKH-Univ. Klinikums. „Eine solche Spitze hat es in den vergangenen zehn Jahren nicht gegeben.“ Stationär gibt es einen Überbelag von 16 Patienten – sie müssen in Gangbetten liegen. Alle in Graz mit Influenza stationär aufgenommenen Kinder sind ungeimpft. „Die Kinderstationen sind mit Viruserkrankungen sehr stark ausgelastet“, heißt es auch beim Wiener Gesundheitsverbund. „Aber alle Kinder, die ein Spitalsbett benötigen, bekommen eines.“
Wie viele Menschen sind derzeit im Krankenstand?
Allein wegen grippaler Infekte waren laut Österreichischer Gesundheitskasse ÖGK in der Kalenderwoche 48 (vergangene Woche) 87.829 Menschen in Krankenstand. Zum Vergleich: 2021 waren es 47.781, 2020 nur 26.164 und 2019 waren es 46.305.
Damit aber nicht genug: In der Vorwoche gab es laut ÖGK auch 19.535 Krankmeldungen wegen Covid-19 und 848 Krankmeldungen wegen echter Virusgrippe (Influenza). Da aber nicht immer getestet wird ist davon auszugehen, dass in der Gesamtzahl der grippalen Infekte auch weitere Influenza-Erkrankungen enthalten sind.
Gab es schon jemals eine so frühe Grippewelle?
„So ein früher Beginn ist selten, aber schon vorgekommen“, sagt die Virologin Monika Redlberger-Fritz, MedUni Wien. 2016 startete die Grippewelle Anfang Dezember, nur eine Kalenderwoche später als heuer und damit um zirka 4 bis 6 Wochen früher als gewohnt. Und auch die pandemische Influenza 2009 (Schweinegrippe) führte bereits im November zu hohen Erkrankungszahlen.
„RSV- und Influenza-Infektionen sind heuer deutlich mehr und früher als vor der Pandemie“, sagt auch der Wiener Kinderarzt Peter Voitl. „Üblicherweise ist die Spitze nach den Weihnachtsferien.“ Gleichzeitig gibt es bei Erwachsenen eine leicht steigende Tendenz von Covid-Patienten.
Warum kommen jetzt alle Viren gleichzeitig?
Ein Grund ist das Wegfallen der Maßnahmen wie Lockdowns und Maskentragen. „Wir hatten in der ersten Zeit der Pandemie keine RSV- und Influenza-Saison im Winter. Jetzt kommen die Viren aber alle auf einmal und treffen auf ungeschützte Kinder, die diese Infektionen ein ganzes Lebensjahr nicht durchgemacht haben.“ Mit etwas Verspätung kommt es auch zu bakteriellen Infektionen. In Großbritannien kam es zu einem Anstieg bei Infektionen mit Streptokokken, Bakterien, die Halsschmerzen, Fieber und leichte Hautinfektionen verursachen können. Binnen zwei Monaten sind dort bereits sechs Kinder verstorben – in einem normalen Winter sterben ein bis zwei an einer solchen Infektion. Voitl rechnet auch in Österreich mit mehr Streptokokkenfällen.
Ist das Immunsystem geschwächt?
„Das Immunsystem bekämpft täglich Hunderte Erreger, es ist nicht geschwächt“, schreibt der Arzt und Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) auf Twitter. Vielmehr erleben mehrere Altersjahrgänge zeitgleich Erstinfektionen. Auch laut Voitl ist die starke Verbreitung mehrerer Viren zur selben Zeit und die Tatsache, dass viele Kinder ungeschützt sind, die Ursache für die hohen Erkrankungszahlen.
„RSV-Infektionen können für Kinder in den ersten beiden Lebensjahren problematisch werden. Wir haben derzeit aber viel mehr Kinder in dieser Altersklasse, die noch nie mit dem Virus in Kontakt waren und daher jetzt gleichzeitig erkranken können – statt über mehrere Saisonen verteilt.“ Viele Kinder haben Doppel- oder Dreifachinfektionen mit RSV, Covid und Influenza und sind „wirklich krank“. Bei Einzelinfektionen sind die Krankheitsverläufe aber nicht schwerer als sonst in einer Influenza-Welle, betont die Virologin Monika Redlberger-Fritz, MedUni Wien.
Wie wirken sich die Engpässe beim Personal derzeit aus?
„Die Überlastung der Kinderärzte und Spitäler ist ein großes Dilemma. Wir führen Kinder ambulant, die eigentlich ins Spital sollten. Und auch im niedergelassenen Bereich gibt es enorm viele Patienten“, sagt Voitl. Das sei auch auf den Kinderarztmangel zurückzuführen. Laut Österreichischer Ärztekammer gibt es derzeit 26 offene Stellen für Kassenkinderärzte, das sind immerhin elf Prozent aller Kassenstellen: In Tirol fehlen zwei, in Oberösterreich sechs, in Niederösterreich neun, in Wien vier, in der Steiermark drei und in Salzburg zwei Kinderärzte auf freien Kassenstellen.
„Wir müssen langjährige Patienten abweisen oder auf den nächsten Tag vertrösten.“ In den Spitälern müsse derzeit zwar kein Kind abgewiesen werden. Allerdings werden viele früher entlassen, um Betten freizubekommen. „Das führt dazu, dass sie vermehrt in die Ordinationen kommen, wo es bereits einen starken Andrang gibt.“
Es soll auch Engpässe bei Medikamenten geben?
Derzeit sind einige Medikamente, die für die Behandlung von RSV und Influenza sowie schwerer grippaler Infekte für Kinder benötigt werden, in Österreich nur eingeschränkt verfügbar. Dazu zählen etwa Inhalationspräparate mit Kortison sowie Antibiotika. Das liegt daran, dass in mehreren Ländern gleichzeitig eine hohe Nachfrage danach besteht.
Wann sollen Eltern mit ihren Kindern zum Arzt gehen?
Anzeichen für einen Arztbesuch sind hohes Fieber, Schmerzen und ein schlechter Allgemeinzustand, etwa wenn das Kind nicht essen und trinken möchte. RSV-Infektionen erkennt man etwa auch an einem typischen pfeifenden Geräusch beim Atmen. Bei milden Infekten mit leichtem Husten und bis 38,5 Grad Fieber kann man hingegen selbst zuhause behandeln, sagt Voitl.
Der Kinderarzt rät unbedingt dazu, Kinder gegen Influenza impfen zu lassen. Das ist ab sechs Monaten möglich, für Kinder zwischen zwei und 15 Jahren steht ein nasaler Impfstoff zur Verfügung. Die Covid-Impfung empfiehlt Voitl „zumindest für Risikokinder“.
Ist es sinnvoll, jetzt freiwilllig wieder verstärkt Masken zu tragen?
Eine derartige Empfehlung hat am Montag bereits die US-Gesundheitsbehörde CDC abgegeben. In den USA steigen derzeit nicht nur die Corona-Zahlen deutlich, die Zahl der Influenza-Patienten in Spitälern ist derzeit so hoch wie seit zehn Jahren nicht um diese Jahreszeit. 78.000 Spitalspatienten mit Influenza sind es derzeit, 4.500 Menschen sind in dieser Saison in den USA bereits an den Folgen einer Influenza-Infektion gestorben. Die CDC empfiehlt Masken bei jeder Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln und generell in allen Situationen mit erhöhtem Infektionsrisiko. Und sie ruft auch dringend zur Grippe- und Corona-Schutzimpfung - hier besonders auch zur 3. bzw. 4. Impfung - auf.
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