Masken, Lockdowns, Abstand: Ist unser Immunsystem jetzt geschwächt?
Eine frühe Grippe-Welle, die noch dazu recht heftig beginnt, dazu viele RSV-Infektionen bei Kindern, viele grippale Infekte und immer noch Corona: Das gleichzeitige und starke Auftreten vieler verschiedener Viren wirft die Frage auf: Ist unser Immunsystem durch die Corona-Schutzmaßnahmen der vergangenen Jahre geschwächt?
Nein, sagen dazu zahlreiche Expertinnen und Experten. Tatsächlich haben Lockdowns und Corona-Maßnahmen wie Maskentragen dazu geführt, dass viele Viren, darunter auch Influenza, sich in den vergangenen zwei Saisonen kaum verbreiten konnten. Diese Maßnahmen sind nun großteils aufgehoben – die Viren verbreiten sich wieder.
"Aber das Immunsystem ist sicher nicht geschwächt", sagt dazu Sylvia Knapp, Professorin für Infektionsbiologie an der MedUni Wien. "Das Immunsystem ist immer beschäftigt - wir haben mehr Keime auf uns als Zellen im Körper." Und: "Man muss nicht ständig krank sein, um ein funktionierendes Immunsystem zu haben."
Laut dem Wiener Kinderarzt Peter Voitl ist es nicht ein geschwächtes Immunsystem, das zu mehr Erkrankungen führt, sondern die starke Verbreitung mehrerer Viren zur selben Zeit und die Tatsache, dass viele Kinder ungeschützt sind. "RSV-Infektionen können für Kinder in den ersten beiden Lebensjahren problematisch werden. Wir haben derzeit aber viel mehr Kinder in dieser Altersklasse, die noch nie mit dem Virus in Kontakt waren und daher jetzt gleichzeitig erkranken können – statt über mehrere Saisonen verteilt“, so Voitl zum KURIER. Viele Kinder haben Doppel- oder Dreifachinfektionen mit RSV, Covid und Influenza und sind „wirklich krank“.
Der Kinderarzt Karl Zwiauer betonte in der ZiB 2 des ORF, dass die RS-Viruswelle zwar "besonders heftig" sei, was die Anzahl der Fälle betreffe, schwerer seien die Krankheitsfälle deshalb aber nicht.
Das gilt auch für die Grippe, betont die Virologin Monika Redlberger-Fritz von der MedUni Wien: "Die Krankheitsverläufe sind nicht schwerer als sonst in einer Influenza-Welle, in der das A(H3N2)-Influenzavirus dominiert."
"Das Immunsystem bekämpft täglich hunderte Erreger, es ist nicht geschwächt", schreibt auch der Arzt und Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) auf Twitter. "Vielmehr sehen wir einen Kohorteneffekt: Es erleben nun mehrere Altersjahrgänge zeitgleich Erstinfektionen. Bei den Kindern fällt das am stärksten auf, weil für sie tatsächlich viele Erreger neu sind und zu stärkerer Krankheit führen. Wieder gilt, die Wellen flacher zu halten."
Infektionen nicht zu vermeiden sei riskant, sagt Knapp: "Es lässt sich ja überhaupt nicht vorhersehen, wie stark man dann erkrankt. Man setzt sich also einer Gefahr aus, ohne eine Nutzen zu haben. Denn je häufiger ich mich infiziere, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass Komplikationen auftreten. Jede Infektion ist ein zusätzlicher Risikofaktor."
Ähnlich auch Czypionka: Wir wissen, dass Viren den Boden für weitere Infektionen durch Gewebedefekte einerseits und manchmal auch durch Immunsuppression (starke Schwächung des Immunsystem, Anm.) wie z. B. bei Masern bereiten."
Immunsystem ist kein Muskel
"Das Immunsystem ist nicht so wie ein Muskel, das, wenn man es lange Zeit nicht braucht, dann weniger gut funktionieren würde", sagte auch der deutsche Immunologe Carsten Watzl kürzlich im WDR-Magazin Quarks (siehe Video unterhalb).
Ähnlich argumentierte die Virologin Isabelle Eckerle, Leiterin der Virologie an der Universität Genf, in dem TV-Magazin: "Diese Vorstellung, dass man das Immunsystem trainieren muss, so wie man im Sport trainiert, ist zu vereinfacht und wird der Komplexität des Immunsystems nicht gerecht." Es gebe keinen Hinweis darauf, dass man regelmäßig krank sein müsse, um besonders gesund zu sein. Bis heute gebe es keine objektivierbaren wissenschaftlichen Daten, dass die Corona-Schutzmaßnahmen "an unserem Immunsystem etwas geändert haben".
Eckerle erklärte das auch an einem Beispiel: "Es ist nicht so, dass man jedes Jahr fünf Mal eine Erkältung bekommen muss und wenn ich zwei Jahre ausgesetzt habe, dann habe ich ein Jahr, wo ich mit 15 Erkältungen in den Schulden stehe und deswegen muss ich alle diese in diesem Jahr bekommen. Das ist Quatsch."
Vorteil einer späteren RSV-Infektion
Bei RSV sei es sogar besser, wenn Kinder ihre erste Infektion erst später im Leben bekommen, "denn das Virus ist besonders gefährlich für sehr kleine Kinder, für Frühgeborene, aber auch für Babys unter einem Jahr, die können einfach sehr schwer krank werden"
Die zwei Jahrgänge, die die Erkrankung in der Pandemie nicht bekommen haben, haben dadurch einen Vorteil, weil wenn die Kinder RSV erst mit drei Jahren bekommen, "dann sind die Atemwege schon ein bisschen größer, die Kinder können einfach mit der Infektion besser umgehen".
Das könne man sich so vorstellen, wie wenn man zwei Jahre lang keine Kinder einschulen würde: "Dann hätte man plötzlich sehr große erste Klassen, weil man einfach zwei Jahre lang keine erste Klasse hatte".
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