Impfstoff-Zulassung in der EU: "Keine Abkürzung bei der Sicherheit"
Mit zirka 40 Firmen, die an der Entwicklung eines Corona-Impfstoffes arbeiten, ist die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) bereits „in ständigem Austausch“, sagt der österreichische EMA-Chefmediziner Hans-Georg Eichler im Interview mit dem KURIER. „Darunter sind auch fast alle Hersteller, die bereits in der fortgeschrittenen Phase 3 sind. Wir erwarten relativ bald die ersten Daten von Studienteilnehmern.“
Mit der Überprüfung des Impfstoffes der Universität Oxford und des britisch-schwedischen Pharmakonzerns AstraZeneca hat die EMA bereits begonnen, gab die Behörde am Donnerstag bekannt. Die Ergebnisse der Tests mit Tausenden von Versuchspersonen würden "in den nächsten Wochen und Monaten" erwartet.
KURIER: Sind Sie so wie viele österreichische Politiker auch zuversichtlich, dass im ersten Halbjahr 2021 in Europa ein Impfstoff zur Verfügung stehen könnte?
Hans-Georg Eichler: Wir von der EMA geben keine solchen Zeithorizonte an. Zum Beispiel lässt sich nicht vorhersagen, wie viele Infektionen von Studienteilnehmern es an einem bestimmten Ort gibt – das entscheidet aber über den Studienfortgang. Wir können in diesem Bereich die Zukunft einfach nicht vorhersehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir einen wirksamen Impfstoff bekommen werden, aber ich kann nicht sagen welchen und in welchem Monat. Wir haben aber das Glück, dass die Impfstoffe, die jetzt bereits in großen Studien getestet werden, nicht aus einer Klasse sind. Es gibt unterschiedliche Technologien. Hätten sie alle das gleiche grundlegende biologische Prinzip, dann bestünde immer die Angst: Fällt einer, fallen alle. So gibt es aber die Hoffnung: Sollten sich Präparate aus einer Kategorie als nicht wirksam oder sicher erweisen, besteht immer noch die Hoffnung, dass zumindest eines der Präparate einer andern Klasse noch die Zielgerade erreicht.
Hans-Georg Eichler
Der Internist und Professor für Klinische Pharmakologie ist seit 2007 leitender Mediziner (Senior Medical Officer) bei der Europäischen Arzneimittelagentur EMA (European Medicines Agency) in Amsterdam. Davor war er 15 Jahre lang an der Med-Uni Wien tätig, zuletzt als Vizerektor.
Die EMA ist - gemeinsam mit der Europäischen Kommission - für die Zulassung und Überwachung von Arzneimitteln in der EU zuständig. Die EMA analysiert und bewertet die Daten und spricht eine Zulassungsempfehlung aus; die Kommission erteilt die eigentliche Zulassung dann auf der Basis der EMA Bewertung.
Teilen Sie Befürchtungen, dass es in den USA unter politischem Druck zu einer übereilten Notfallzulassung kommen könnte?
Ich bitte um Verständnis, dass ich die Situation in den USA nicht kommentieren kann. Grundsätzlich haben wir großen Respekt vor unseren US-Kollegen. Ich kann aber klar sagen: In Europa haben wir keinen politischen Druck. Wir sind hier in der Lage, unsere Meinungen und Beschlüsse ausschließlich auf Basis der wissenschaftlichen Datenlage treffen zu können.
Erhöht eine Zulassung in den USA die Chance auf eine Zulassung auch in Europa?
Nein. Das hat keine Präzedenzwirkung. Natürlich kennen wir die Argumente unserer US-Kollegen, aber sie sind nur eine von vielen unserer Informationsquellen, die wir anhören und bewerten. Aber unsere Entscheidung ist eine rein europäische. Es gab Fälle bei anderen Präparaten, wo wir uns trotz einer Zulassung z. B. in den USA oder Japan in Europa gegen eine solche ausgesprochen haben – und es gab auch schon den umgekehrten Fall. Die Bevölkerung in der EU kann darauf vertrauen, dass wir nur einen Impfstoff zulassen, der sicher, wirksam und frei von politischem Druck ist.
In den USA gibt es das Instrument einer „Notfallzulassung“, mit deutlich weniger strengen Kriterien. Gibt es das in der EU auch?
Nein. Wir haben aber die Möglichkeit einer „konditionalen Zulassung“: Eine zeitlich begrenzte frühzeitige Zulassung unter genau definierten Auflagen. Im Gegensatz zu der Notfallzulassung in den USA gibt es hier aber eine ganz klare Voraussetzung: Der Nutzen der früheren Verfügbarkeit überwiegt das potenzielle Risiko der geringeren Informationsmenge. Wenn wir einen Impfstoff mit einer sehr guten Schutzwirkung haben, der sehr gut verträglich ist, dann kann auch eine relativ kleine Informationsbasis eine konditionale Zulassung rechtfertigen. Die Firma bekommt aber Auflagen, einen Zeitplan, welche Daten sie noch liefern muss.
Eine zeitlich begrenzte Zulassung wäre auch vor Abschluss der großen Studien (Phase 3) mit Zehntausenden Probanden denkbar?
Vor dem Start einer Studie werden mit der Behörde Kriterien für Zwischenanalysen festgelegt. Sind frühzeitig bestimmte Bedingungen für Wirksamkeit und Sicherheit erfüllt, kann es sein, dass die Voraussetzungen für eine zeitlich begrenzte Zulassung vor regulärem Studienende gegeben sind – das ist genau definiert. In vielen der Phase-3-Studien ist aber bereits jetzt ein großer Teil der Probanden eingeschlossen. Und es werden immer, nach jeder Zulassung, Wirksamkeit und Sicherheit weiter beobachtet.
Wie viele Erkrankungen muss ein Impfstoff verhindern können? Sind 50 Prozent die Untergrenze?
Hier muss man zwei Dinge unterscheiden: Alle Regulationsbehörden haben sich darauf geeinigt, dass die Studien vom Umfang und der Anordnung her so ausgelegt sein müssen, dass eine 50-prozentige Reduktion der Erkrankungszahl im Vergleich zu Placebo klar nachweisbar ist. Wir haben aber keinen Schwellenwert, wonach ein Impfstoff mit 49-prozentiger Schutzwirkung nicht zugelassen werden könnte. Ausschlaggebend ist die positive Nutzen-Risiko-Analyse.
Wieso kann eine Zulassung überhaupt so rasch erfolgen?
Wir haben ein „Rolling-Review-Verfahren“ eingeführt: Normalweise wartet eine Firma, bis sie alle Daten einer Studienphase hat, erstellt ein Dossier und kommt dann zu uns. Jetzt können Firmen mit Teilen ihres Datenpakets, die sie schon fertig haben – also z. B. Herstellungs- oder Haltbarkeitsdaten – schon zu uns kommen, bevor die klinischen Studien mit den Probanden abgeschlossen sind. Vieles, was früher hintereinander stattgefunden hat, findet jetzt parallel statt. Und wir haben viele unserer Ressourcen auf die Covid-19-Impfstoffe konzentriert. Ich muss aber betonen: Es gibt keine Abkürzungen bei der Sicherheit und Wirksamkeit. Und wir werden in der Öffentlichkeit transparent begründen, auf welcher Basis wir zu einer positiven Beurteilung gekommen sind.
Wie sicher können Sie auch seltene Nebenwirkungen ausschließen?
In die derzeit laufenden Phase-3-Studien werden zwischen 20.000 und 60.000 Probanden eingeschlossen, jeweils die Hälfte davon bekommt den Impfstoff, die andere ein Placebo. Wenn ein Impfstoff schließlich auf den Markt kommt, werden 10, 20, vielleicht 100 Millionen Menschen geimpft werden. Das ist eine völlig andere Dimension. Ganz seltene Nebenwirkungen kann man also immer erst nach einer Zulassung erfassen – das ist bei jedem Medikament so. Aber unser Ziel ist es, solche etwaigen Nebenwirkungen – insofern es sie überhaupt gibt – so rasch wie möglich zu registrieren. Deshalb gibt es ja das Instrument der verpflichtenden Nachbeobachtung von Sicherheit und Wirksamkeit durch die Firmen. Die Kriterien dafür werden von uns mit den Firmen vor der Zulassung festgelegt.
Kinder und Jugendliche sind in die derzeitigen Zulassungsstudien nicht eingeschlossen. Kann dann ein Impfstoff trotzdem auch für sie zugelassen werden?
In einer idealen Welt hätten wir natürlich immer gerne Daten über alle Untergruppen in der Bevölkerung, das ist praktisch aber nicht immer möglich. Es gibt aber in Europa gesetzliche Bestimmungen, dass für neuartige Arzneimittel – da fallen diese Impfstoffe auch darunter – ein eigener pädiatrischer Untersuchungsplan vorzulegen ist. Das heißt: Die Firmen müssen uns darlegen, was sie unternehmen, um dieses Informationsdefizit bei Kindern und Jugendlichen auszugleichen. Das können spezielle Auswertungen der Daten der Erwachsenen sein, das können noch eigene kleine zusätzliche Studien sein. Es muss jedenfalls plausible Rückschlüsse auf die Wirkung des Impfstoffes bei Kindern geben.
Wie bewerten Sie den russischen Impfstoff Sputnik V, der vor der Durchführung einer großen Phase-3-Studie zugelassen wurde?
Die Hersteller dieses Impfstoffes sind nie an uns herangetreten, wir kennen das Dossier nicht, daher ich dazu auch nichts sagen. In Europa gibt es keine Zulassung ohne einer solchen Phase-3-Studie. Und es reicht in der EU für eine Zulassung auch nicht aus, als Kriterium für die Wirksamkeit nur eine Reaktion des Immunsystems nachzuweisen, also etwa die Bildung von Antikörpern. Es muss eindeutig die Reduktion von Erkrankungsfällen gezeigt werden.
Die EMA finanziert sich zum größten Teil aus Mitteln der Industrie. Führt das nicht zur Abhängigkeit?
Diese Diskussion kommt immer wieder hoch. Es ist richtig, dass wir uns hauptsächlich aus „industry fees“, also aus Bearbeitungsgebühren, finanzieren: Das heißt, eine Firma stellt bei uns einen Antrag auf Zulassung eines Präparats und für diesen Antrag muss sie bezahlen. Aber Sie müssen auch dafür zahlen, dass Sie zur Führerscheinprüfung antreten können – damit kaufen Sie sich aber den Führerschein nicht, Sie können bei der Prüfung auch durchfallen. Die Bearbeitungsgebühr hat keinen Einfluss auf das Ergebnis des Zulassungsprozesses.
Sie haben davon gesprochen, dass Sie keinen politischen Druck haben. Aber sehen Sie sich unter zeitlichem Druck?
Selbstverständlich, und wir arbeiten auch so rasch wie nur möglich. Nicht nur hier in unserem Hauptgebäude in Amsterdam, sondern auch als europäisches Netzwerk von Arzneimittelagenturen der einzelnen Mitgliedsstaaten. In jeder Hauptstadt eines EU-Landes gibt es Experten, die sich jetzt mit diesen Impfstoffen befassen.
Werden auch Sie selbst sich impfen lassen?
Natürlich, mit einem von der EMA zugelassenen Impfstoff. Meine ganze Familie wird sich impfen lassen. Das ist gar keine Frage.
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