Corona-Impfpflicht-Debatte: Der Streit um den unbequemen Pikser
Die Erprobung wirksamer Impfstoff-Kandidaten läuft auf Hochtouren. Auch die Debatte um eine Impfpflicht nimmt wieder Fahrt auf. Das Gedankenspiel speist sich aus aktuellen Umfragen, die eine beträchtliche Impfunwilligkeit in der Bevölkerung darlegen.
Im April und Juni befragten Wissenschafter der Universität Hamburg mehr als 7.000 Menschen in sieben europäischen Ländern. Die Bereitschaft, sich gegen SARS-CoV-2 immunisieren zu lassen, sinkt. Von 74 Prozent im April schrumpfte sie europaweit auf 68 Prozent im Juni. Selbst im Corona-gebeutelten Italien ging die Zustimmung um 13 Prozent zurück. In den USA wollen sich gar nur 40 Prozent impfen lassen. Erst ab einer gleichmäßigen Durchimpfungsrate von 70 Prozent kann eine Herdenimmunität entstehen – das Virus sich dann nicht mehr unkontrolliert ausbreiten.
Gelingt es nicht, einen breiten Konsens für einen Impfstoff in der Population zu bekommen, mutet eine Verpflichtung als letzter Ausweg an. Doch soll man Menschen zum Impfen zwingen können? Der KURIER hat das mit Experten besprochen.
Ist ein Zwang rechtlich zulässig?
Deutsche Schul- und Kindergartenkinder können es sich seit März nicht mehr aussuchen, ob sie gegen Masern geimpft werden. Auch in anderen EU-Ländern, ebenso wie in den USA oder Großbritannien, gilt für gewisse Erkrankungen eine Impfpflicht. "Das wäre aus verfassungsrechtlicher Sicht auch in Österreich möglich", sagt Katharina Braun, Expertin für Medizinrecht, "vorausgesetzt, dass eine Gefährdung der Bevölkerung bei Vorhandensein eines Corona-Impfstoffes damit abgewandt werden kann".
Wie relevant ist der Impfstoff?
Dass es die zur Verpflichtung gehörende Vakzine noch nicht gibt, stellt keine gute Basis dar. "Es liegen noch keine Fakten auf dem Tisch, welche Eigenschaften die Impfstoffe haben werden", betont Impfstoffexperte Herwig Kollaritsch. "Ob sie Nebenwirkungen haben und wie sie schützen werden –, ob sie eine Weitergabe der Infektion verhindern (Kriterium für Herdenimmunität), oder nur die Erkrankung verhindern". Keine Impfung bietet einen hundertprozentigen Schutz, trotzdem kann man sie verpflichtend einführen. Sofern sie in der Lage ist, die Infektionsausbreitung zu verhindern. Die Grippeimpfung vermag dies beispielsweise nicht. Sie kann die Ausbreitung nur reduzieren. "Deswegen eignet sie sich für eine Impfpflicht schlechter", erklärt Ursula Köller, Mitglied der Arbeitsgruppe "Impfen" der Bioethikkommission des Bundeskanzleramtes.
Birgt die beschleunigte Impf-Entwicklung Risiken?
"Das Argument, dass es derzeit zu einem Herabsetzen der Sicherheitsstandards und damit am Ende zu einem weniger sicheren Impfstoff kommen wird, kann man so nicht gelten lassen", bekräftigt Köller. Impfstoffe zählen zu den am stärksten geprüften und damit sichersten Medizinprodukten. "Derzeit läuft die Entwicklung im Fast-Track, also in einem beschleunigten Modus", bestätigt Kollaritsch. Was normalerweise hintereinander abläuft, werde derzeit teilweise überlappend ausgeführt. "Wobei das keinesfalls die grundsätzlichen Sicherheitsstandards verwässert oder man deshalb weniger verantwortungsvoll damit umgeht", betont der Experte. "Man versucht nur, möglichst keine Zeit zu verlieren."
Medizinethiker Körtner dazu: "Solange Vorstudien aus plausiblen, nachvollziehbaren Gründen abgekürzt werden, ist das legitim, weil jetzt großer Handlungsdruck besteht." Das bei Tests am Menschen die höchste Sorgfaltspflicht gelte, sei ohnehin unumstritten.
Die Weltbevölkerung könne sich Köller zufolge glücklich schätzen, dass so viele verschiedene Impfstoffe produziert werden. "Wobei man in puncto Corona anmerken muss, dass Forschungstreibende und Pharmaunternehmen in noch nie dagewesenem Ausmaß auf den Zug aufgesprungen sind und enorme finanzielle Ressourcen dafür freigemacht wurden."
Universität Oxford/Astra Zeneca
Der Wirkstoff "AZD1222" gilt als größter Hoffnungsträger. Er wird aktuell an 30.000 Freiwilligen (Phase III der Impfstoff-Entwicklung, inklusive Placebo-Gruppe) getestet. Die EU hat sich Kontingente an dem Impfstoff gesichert, der Ende 2020 in Produktion gehen soll.
Sinovac
Der Impfstoffkandidat "Picovacc" des chinesischen Unternehmens wird ebenso in einer finalen Phase-III-Studie in Brasilien getestet.
Biontech/Pfizer
Das Mainzer Biopharma-Unternehmen und sein US-Partner Pfizer sind vor wenigen Tagen in die entscheidende Testphase eingestiegen.
Moderna
Der US-Konzern testet eine vielversprechende Vakzine an 30.000 Menschen. Zuletzt wurde bekannt, dass die Firma um die 60 US-Dollar pro Impfdosis veranschlagen will. Damit liegt man über dem Niveau der Konkurrenz.
Ist eine Pflicht umsetzbar?
"Eine Impfpflicht ist keine Garantie für hohe Impfraten", mahnt Köller. Im schlimmsten Fall stärkt sie das Misstrauen ins Impfen. Eine Prämisse dafür, dass sie greift, sei die Einführung eines elektronischen Impfpasses, "damit man sie überprüfen kann". Noch wichtiger als die Nachkontrolle sei die Vorbereitung – "am besten durch umfangreiche Informationskampagnen als Gemeinschaftsakt von Politik, Medien und Experten", sagt Kollaritsch.
Die Maßnahme könnte mit einer Kürzung der Sozialleistungen verknüpft werden, meint Juristin Braun: "So wie fehlende Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen das Kinderbetreuungsgeld reduzieren." Um einen derart massiven Eingriff in die Grundrechte zu rechtfertigen, müsste belegt sein, "dass die Impfung risikofrei verabreicht werden kann".
Ursula Köller
Ursula Köller ist Mitglied der Arbeitsgruppe "Impfen" der Bioethikkommission des Bundeskanzleramtes und Universitätsprofessorin für medizinische und chemische Labordiagnostik an der Medizinischen Universität Wien.
Katharina Braun
Katharina Braun ist selbstständige Rechtsanwältin und Expertin für Medizinrecht.
Herwig Kollaritsch
Herwig Kollaritsch ist Infektiologe, Impfstoff-Experte und Mitglied der Corona-Taskforce des Gesundheitsministeriums.
Ulrich Körtner
Ulrich Körtner ist Theologe und Medizinethiker und lehrt am Institut für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.
Wie begegnet man Impfskepsis?
In impfkritischen Diskussionen werden oft potenzielle Nebenwirkungen ins Treffen geführt. "Im Internet sind Verschwörungstheorien teilweise einfacher zu finden als wissenschaftlich fundierte Zahlen", bedauert Köller. Letztere würden belegen, "dass es praktisch keine Impfschäden gibt".
Impfskepsis hat in Österreich aus verschiedenen Gründen Tradition. "Zum einen sind Impfungen Interventionen am gesunden Menschen", schickt Köller voraus. Zum anderen gebe es eine historisch gewachsene Faszination für Homöopathie und andere alternative Disziplinen. "Problematisch ist das, weil man die Argumente, von Impfkritikern nie in einer ordentlichen öffentlichen Debatte ausdiskutiert hat." Impfskepsis ist keinesfalls ein Problem bildungsferner Schichten: "Impfungen sind immer Opfer ihres Erfolges", weiß Kollaritsch. "Viele Gegner argumentieren, dass es die Krankheit, vor der die Impfung schützen soll, nicht mehr gibt. Es wird verkannt, dass der Grund dafür Impfstoffe sind."
Ein bedachtes Vorgehen sei wichtig, weil "Impfkritiker keine homogene Masse sind", sagt Medizinethiker und Theologe Ulrich Körtner. "Es gibt einen gewissen Prozentsatz, der Impfungen grundsätzlich verweigert – etwa aus einer Ablehnung der konventionellen Medizin heraus. Dann gibt es jene, die aus Unsicherheit kritisch sind. Und es gibt Menschen, die dem Impfen neutral gegenüberstehen, sich aber aus Bequemlichkeit dagegen entscheiden." Impfungen kostenlos zur Verfügung zu stellen, könne einen Anreiz schaffen. "Damit kann man Unwilligkeit womöglich besser beikommen als mit Zwang."
Gibt es ein Recht auf selbstschädigendes Verhalten?
Für Körtner heiligt Corona nicht alle Mittel: "Die Gesundheit des Einzelnen hängt zweifelsfrei nicht nur vom eigenen Verhalten ab, sondern auch davon, wie gut er vor dem leichtfertigen Verhalten anderer geschützt wird. Dem Staat kommt hier eine Verantwortung zu. Mit einer Impfpflicht nimmt er diese wahr, beschränkt aber gleichzeitig das Recht auf selbstgefährdendes Verhalten."
In einer Pandemie offenbart sich hier der Knackpunkt: "Die massenhafte Impf-Weigerung könnte die Gesundheit als öffentliches Gut gefährden, was rechtfertigen würde, die Autonomie des Einzelnen zu beschränken." Ein gutes Beispiel für akzeptierte Einschränkungen ist etwa die Gurtenpflicht oder die in manchen Bereichen bestehende Helmpflicht.
Sind Verweigerer unsolidarisch?
Immer wieder war in den vergangenen Monaten vom Wert der Solidarität die Rede. Wäre es unsolidarisch, sich bei Bestehen einer Corona-Impfung nicht immunisieren zu lassen? "Es geht hier in der Tat um einen Akt der Solidarität", meint Kollaritsch, "um all jene, die dies nicht können, etwa, weil sie vorerkrankt oder in fortgeschrittenem Alter sind, zu schützen". Köller fügt hinzu: "Wir sollten zum Konsens kommen, dass Herdenimmunität ein gemeinsames Gut ist, zu dem jeder beitragen sollte. Es wurden in den vergangenen Monaten Maßnahmen gesetzt, die unsere Freiheiten erheblich eingeschränkt haben. Dagegen erscheint eine Impfpflicht ein vergleichsweise gelindes Mittel."
Ist ein Mittelweg denkbar?
Ja – hier sind sich die Experten einig. "Bei Personen, die in sensiblen Bereichen arbeiten, bin ich vom Sinn einer Impfvorschreibung seitens der Arbeitgeber überzeugt", sagt Kollaritsch. "Das Allerwichtigste wird sein, dass Ärzte, die der Bevölkerung die Impfung verabreichen, gut geschult werden. Um Argwohn gar nicht erst aufkommen zu lassen."
Der Wert eines Impfstoffes liegt für Köller jedenfalls auf der Hand: "Das Tückische an SARS-CoV-2 ist, dass es auf eine Bevölkerung trifft, die noch nie Kontakt damit hatte. Es kann jeden treffen. In dem Moment, wo wir eine Impfung haben, ändert sich das."
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