Ins Blaue bestellt? EU sichert sich 400 Millionen Corona-Impf-Dosen
AZD1222. Klingt wie ein sperriges WLAN-Passwort. Ist aber ein medizinisches Mittel, das aktuell die ganze Welt begehrt. AZD1222, so heißt einer von über 130 Impfstoffen gegen das neue Coronavirus, die sich momentan noch in Entwicklung befinden. Die EU, genauer gesagt eine Impfallianz bestehend aus Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden, hat nun vorab bis zu 400 Millionen Dosen der Vakzine geordert.
Sobald diese zugelassen wird, soll die vereinbarte Menge geliefert werden, teilte das deutsche Bundesgesundheitsministerium am Wochenende mit. Die Dosen sollen dann "relativ zur Bevölkerungsgröße auf alle Mitgliedstaaten aufgeteilt werden". Die europäische Bevölkerung wäre grob abgedeckt.
Verteilungskampf
Im Gesundheitsministerium begrüßt man den Schritt in Richtung Versorgungssicherheit: Das Vorhaben der 4-Länder-Allianz sei "vollauf mit Österreich akkordiert", lässt Minister Rudolf Anschober auf KURIER-Anfrage wissen. Es würden sich Vorteile für alle Mitgliedstaaten "und damit auch für Österreich ergeben".
Impfstoff-Spezialist Herwig Kollaritsch hält die Aktion für schwer kalkulierbar: "Wir haben zum aktuellen Zeitpunkt noch keine Ahnung, welcher Hersteller, wann, welchen Impfstoff, der noch dazu in seiner Qualität einwandfrei und sicher für die Menschen sein muss, herausbringen wird." Große Corona-Impfstoff-Lieferungen vorzubestellen sei so ähnlich, "wie wenn man sich wegen einer Werbung für ein Auto einer bestimmten Marke dieses sofort kaufen würde. Ohne es gesehen zu haben, ohne über die Ausstattung oder technische Daten Bescheid zu wissen."
Angeschafft wurde der Impfstoff beim anglo-schwedischen Arzneimittelhersteller AstraZeneca, der diesen zusammen mit der Universität Oxford erarbeitet. Die Wahl des Hersteller-Kollektivs sei schlüssig, betont Kollaritsch: "Die Technologie dahinter ist elaboriert." Es handle sich um einen sogenannten Vektorimpfstoff, der wie folgt funktioniert: Man greift auf ein für den Menschen harmloses Virus zurück. Im konkreten Fall sind das Adenoviren, die gentechnisch so manipuliert werden, dass sich auf ihrer Oberfläche Proteine ausbilden, die dem Immunsystem vorgaukeln, es handle sich bei dem Erreger um SARS-CoV-2. Infolge setzt der Organismus seine Abwehrkräfte entsprechend in Gang. "Man produziert, salopp formuliert, ein Schaf im Wolfspelz", sagt Kollaritsch. Bei Ebola-Impfstoffen seien mit dieser Technologie gute Erfahrungen gemacht worden. "Ob sie auch bei Covid-19 funktioniert, kann man nicht sagen, man weiß aber jedenfalls, woran man ist."
Forschungsfortschritt
Die AstraZeneca-Forschungen sind weit gediehen: Bereits im Mai teilte man mit, dass die Substanz an 10.000 Probanden getestet werde. Die ersten Dosen sollen bis Ende des Jahres erhältlich sein. In Kürze werde man "einen guten ersten Eindruck haben, ob der Impfstoff gut verträglich ist", prognostiziert Kollaritsch. Welcher Preis für die Vorbestellung veranschlagt wurde, ist nicht bekannt. Man wolle während der Pandemie auf eine Gewinnmaximierung verzichten, teilte AstraZeneca mit. Unterdessen will sich auch China in Sachen Impfstoff in die Poleposition bringen. Mit am vielversprechendsten ist die Entwicklung der Militärakademie für Medizinforschung in Kooperation mit dem Pharmakonzern CanSinoBIO. Ein Impfstoff könnte für ausgewählte Personen schon im September einsatzbereit sein.
Auf die Idee, sich vorweg Impfstoff-Lieferungen zu sichern, sind schon andere gekommen. Ähnliche Abkommen gibt es laut AstraZeneca bereits mit Großbritannien und den USA. Kooperiert wird auch mit der internationalen Impfallianz Gavi. Die von Bill und Melinda Gates gegründete Organisation setzt sich für die Impf-Versorgung von Menschen in Entwicklungsländern ein.
Flaschenhals
Ein ambitioniertes Produktionsvorhaben also, das AstraZeneca durchaus selbstsicher in Angriff nimmt. Man werde rasch eine Produktion in Europa aufbauen, erklärte AstraZeneca-Chef Pascal Soriot. Das sei nicht so einfach, gibt Kollaritsch zu bedenken. Einen wirksamen Impfstoff für die Weltbevölkerung produzieren zu lassen sprenge existierende Herstellungskapazitäten, "die mit der Produktion der Impfstoffe für den Routinebedarf ausgelastet sind". Neue Produktionsstätten zu bauen und zertifizieren dauere mindestens ein bis zwei Jahre.
Was AZD1222 letztlich können und ob man in der Lage sein wird, diese unglaubliche Menge in so kurzer Zeit zur Verfügung zu stellen, "kann ich nicht beurteilen, es gibt noch keine publizierten Daten dazu", sagt Kollaritsch. Damit spricht der Experte ein weiteres Problem an. Unklar ist, wie genau ein Impfstoff einer Covid-19-Erkrankung vorbeugen wird. Und wie lange er Immunität verleiht.
Letztlich werde es laut Kollaritsch nicht so sehr darum gehen, dass alle Staaten der Welt möglichst großen Zugriff auf einen fertigen Impfstoff haben, "sondern, dass jene Menschen rasch Zugang haben, die eine Immunisierung am dringendsten brauchen".
Eine große Unbekannte ist außerdem die Akzeptanz der Bevölkerung: "Liegt sie im Bereich der Grippe, wo wir gerade mal zehn Prozent erreichen, ist das Projekt ohnehin zum Scheitern verurteilt."
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