Europäischer Gaspreis könnte sich im Winter halbieren

Ein Gasknotenpunkt.
Der europäische Großhandelspreis für das bitter benötigte Gas könnte im kommenden Winter deutlich fallen. Laut einer Prognose der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs ist es wahrscheinlich, dass sich der Preis für eine Megawattstunde (MWh) im ersten Quartal 2023 mehr als halbiert, von derzeit etwa 200 Euro auf weniger als 100 Euro. Der Grund: die erfolgreichen Bemühungen der EU, Gas vermehrt aus nicht-russischen Quellen zu kaufen.
Der Großhandelspreis für Gas ist im letzten Jahr deutlich gestiegen. Kostete eine MWh im Herbst 2021 noch etwa 40 Euro, stieg der Preis nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine auf mehr als 200 Euro. Im August erreichte er einen Rekordwert von knapp 350 Euro. Zum Vergleich: Der langjährige Durchschnittspreis liegt im Sommer bei 20 Euro pro MWh.
Russland ist Europas wichtigster Lieferant für fossile Energieträger. Während Kohle und Öl relativ leicht auch aus anderen Quellen bezogen werden kann, ist die Diversifizierung bei Erdgas, das hauptsächlich über Pipelines angeliefert wird, deutlich schwieriger. Gut 40 Prozent der Importe kamen vor dem Ukraine-Krieg aus Russland, in Österreich sogar 80 Prozent.
Um weniger erpressbar zu sein, haben sich die EU-Staaten auf das Ziel geeinigt, ihre Gasspeicher bis November zumindest zu 80 Prozent zu füllen. Zwar sind einige Länder davon noch weiter entfernt, insgesamt scheint der Staatenbund aber auf einem guten Weg zu sein. In allen EU-Staaten zusammengezählt sind die Speicher bereits zu 84 Prozent ausgelastet. Das entspricht knapp 940 Terawattstunden (TWh) Erdgas, etwas weniger als einem Viertel des Jahresbedarfs.

Der russische Staatskonzern Gazprom war über Jahre Europas wichtigster Lieferant von Erdgas.
Und das, obwohl Russland die Gasexporte nach Europa heuer stark reduziert hat. Die Ausfälle wurden also erfolgreich durch andere Lieferanten ausgeglichen, folgern die Analysten von Goldman Sachs. Wenn auch zu deutlich höheren Preisen. Wichtig war dabei vor allem der vermehrte Import von Flüssiggas (LNG) auf dem Seeweg, aber auch der Rückgang beim Verbrauch spielt eine Rolle. Nach Einschätzung von Goldman Sachs sollten die EU-Staaten somit über den Winter kommen.
Das sei "durchaus plausibel", meint Leo Lehr von der österreichischen Regulierungsbehörde E-Control auf Anfrage des KURIER. Vorausgesetzt, die EU-weiten Einsparungen können umgesetzt werden und die nicht-russischen Lieferungen etwa aus Norwegen und Nordafrika bleiben stabil. Die zwei neuen LNG-Terminals, die um den Jahreswechsel in Deutschland in Betrieb gehen sollen, könnten zusätzliche Entlastung bringen. Was die Preise betrifft, ist die Prognose aber "sehr optimistisch", meint der Experte. Auch sei davon auszugehen, dass die Preise im Herbst kommenden Jahres wieder ansteigen.
Ende des Schreckens?
Damit könnte das Horrorszenario eines russischen Gas-Lieferstopps deutlich an Schrecken verlieren.Zuletzt sind die Lieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach einer angekündigten Wartung Anfang September nicht wieder aufgenommen worden. Der russische Staatskonzern Gazprom beruft sich auf technische Probleme und sieht die Ursache beim Turbinenhersteller sowie in den EU-Sanktionen gegen die Lieferung technischer Geräte. Präsident Wladimir Putin hat zuletzt aber erklärt, dass Russland der EU kein Gas liefern werde, wenn das den nationalen Interessen widerspricht. Damit hat er ausgesprochen, was etwa die deutsche und die österreichische Regierung ohnehin längst angenommen hat: Russland ist im Wirtschaftskrieg mit der EU und setzt die Energielieferungen als Druckmittel ein.

Russlands Präsident Wladimir Putin.
Bemerkenswert ist dabei, dass weder die Ankündigung Putins noch der unbefristete Lieferstopp auf der Nord-Stream-Route zu weiteren Preisausschlägen am europäischen Markt geführt hat. Durch die Ukraine und die Türkei fließt übrigens noch russisches Gas nach Europa. Dass Gazprom diese Lieferungen dauerhaft einstellt, hält zumindest Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) für unwahrscheinlich. Denn Moskau würden dadurch Einnahmen entgehen, schätzt auch der Ökonom Vasily Astrov vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Russland sei bei den Erdgasexporten zu etwa vier Fünftel auf Pipelines angewiesen und könne deswegen nicht so einfach andere Abnehmer beliefern.
Die österreichischen Gasspeicher fassen mit 95 Terawattstunden etwa einen Jahresbedarf und sind zu knapp 72 Prozent gefüllt. Allerdings werden daraus auch Verbraucher in Nachbarländern mitversorgt. Für die Versorgung von Haushalten und kritischer Infrastruktur schafft der Staat eine strategische Reserve über 20 Terawattstunden an.
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