Kritik an der Fußball-WM in Katar: Was ist an den Vorwürfen dran?
Vorfreude auf ein Sportgroßereignis. Das kindliche Gefühl, das mit dem Countdown zum Anpfiff bei Fans meist indirekt proportional größer wird, will sich bei vielen diesmal einfach nicht einstellen. Das ergab auch eine Umfrage unter KURIER-Lesern Anfang November, bei der nur vier Prozent der Befragten angaben, vor dem Turnier im Fußballfieber zu sein.
Viele können oder wollen sich auf das umstrittene Event nicht einlassen, manche haben das Gefühl, sie dürfen es nicht. Berichte über Menschenrechtsverletzungen, willkürliche Verhaftungen und Korruption sind für einen WM-Ausrichter nicht vollkommen neu – in dieser Intensität aber beispiellos. Aber stimmen die Vorwürfe? Und worum geht es eigentlich genau? Der KURIER gibt einen Überblick:
Die Vergabe ist unter Korruption zustande gekommen.
Stimmt.
Etliche ehemalige Mitglieder des FIFA-Exekutivkomitees, die 2010 bei der Vergabe für die Weltmeisterschaften 2018 und 2022 mitgestimmt haben, sind inzwischen der Korruption überführt. Es soll Schmiergeldzahlungen und Absprachen gegeben haben. Im Zentrum der aktuellen Kritik steht unter anderem ein gemeinsames Essen im Pariser Élysée-Palast mit dem damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy, dem damaligen Kronprinzen und heutigen Emir von Katar, Hamad bin Khalifa Al Thani, und dem damaligen UEFA-Chef Michel Platini, der sich zehn Tage danach bei der Vergabe statt für die USA für Katar eingesetzt hat. Katar bestreitet bis heute, unlautere Mittel eingesetzt zu haben, wenngleich zuletzt sogar bekannt wurde, dass die Organisatoren mit ehemaligen Spionen zusammengearbeitet haben, um Druck auf die FIFA auszuüben.
Tausende Gastarbeiter sind bei den Vorbereitungen gestorben.
Stimmt wahrscheinlich.
Offiziell hat die FIFA allerdings lediglich drei tote Arbeitskräfte im Rahmen der WM-Vorbereitungen zugegeben. Viele internationale Medien gehen von rund 6.000 bis 15.000 gestorbenen Gastarbeitern aus. Häufigste Todesursache: Herzversagen. Die Zahlen sind umstritten, doch die schlimme Situation vieler ausländischer Arbeitskräfte im Land ist vielfach belegt.
Der Druck von Aktivisten und die mediale Aufmerksamkeit sorgten in den vergangenen Jahren für Verbesserungen. Etwa wurde das in der Region für Gastarbeiter übliche Kafala-System abgeschafft – ein System der Bürgschaft durch den Arbeitgeber, das die Gastarbeiter vom Arbeitgeber abhängig machte. Sie mussten den Pass abgeben und konnten bis Ablauf ihres Vertrages den Dienstgeber nicht wechseln, geschweige denn Missstände melden. Die Arbeitsmarktreformen von 2020 beinhalteten unter anderem auch einen gesetzlichen Mindestlohn und Strafen für Arbeitgeber, die den Lohn nicht oder zu spät auszahlen. Außerdem ermöglichten die Reformen einen Arbeitsplatzwechsel und die Möglichkeit, bei einer unabhängigen Stelle Beschwerde einzureichen.
Das große Problem allerdings: „Es gibt jetzt die Rahmenbedingungen, die Zwangsarbeit verbieten in Katar, aber es wird nicht wirklich kontrolliert“, sagt Sandra Iyke von Amnesty Österreich zum KURIER. Weit ab von der Aufmerksamkeit sind vor allem die (hauptsächlich weiblichen) ausländischen Hausangestellten. Sie sind oft (sexueller) Misshandlung und Ausbeutung (16-Stunden-Tage) ausgeliefert.
In Katar werden Frauenrechte missachtet.
Stimmt großteils.
Zwar kann man sich als Touristin einigermaßen frei bewegen und muss sich nicht verschleiern. Für die in Katar lebenden Frauen hingegen gelten andere Regeln. „Frauen in Katar haben schon einige Hürden überwunden und bedeutende Fortschritte in Bereichen wie Bildung erzielt, aber sie befinden sich noch immer unter den staatlichen Regeln zur männlichen Vormundschaft“, sagt Rothna Begum von Human Rights Watch.
Sie brauchen die Erlaubnis ihres Vormundes, wenn sie heiraten wollen, wenn sie mit Stipendium studieren, einen Regierungsjob annehmen, reisen oder zum Beispiel Verhütungsmittel besorgen wollen. Frauen können bestraft werden, wenn sie sich „ohne legitimen Grund“ weigern, mit ihrem Mann Sex zu haben. Es gibt in Katar keine Frauenrechtsorganisation und so gut wie keinen Schutz vor Vergewaltigung. Zeigt eine Frau einen Übergriff durch einen Fremden an, droht ihr ein Prozess wegen Sex außerhalb der Ehe.
In Katar werden Homosexuelle verfolgt.
Stimmt teilweise.
Homosexualität ist in Katar per Gesetz verboten. „Theoretisch besteht unter dem islamischen Sharia-Recht die Möglichkeit der Todesstrafe“, sagt Chamindra Weerawardhana von ILGA World, einer weltweiten LGBTQI-Rechtsorganisation. „Die Rainbow Community hat Sorge und bis zu einem gewissen Grad Angst vor dem Establishment. Dadurch sind sie in den meisten Fällen dazu verdammt, im ,Schatten’ zu leben.“
Die jüngsten Aussagen des katarischen WM-Botschafters, dass Homosexualität ein „geistiger Schaden“ sei, untermauern dieses Bild. Dennoch versprechen Organisatoren und Regierung, dass kein WM-Gast wegen möglicher Homosexualität verfolgt wird. Aktivistinnen sorgen sich allerdings um das Schicksal der einheimischen LGBTQI-Menschen nach dem Finale.
Es gibt keine Meinungsfreiheit bzw. unabhängige Medien.
Stimmt großteils.
Vereinzelt wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Kritik sowohl an der Ausbeutung der Gastarbeiter oder an der WM-Organisation geäußert. Doch Einzelpersonen, die öffentlich Kritik üben, laufen Gefahr, verfolgt, verhaftet oder des Landes verwiesen zu werden. Etwa Malcolm Bidali, ein Gastarbeiter aus Kenia, der in einem Blog die Zustände in den Lagern der Gastarbeiter öffentlich gemacht hat (wochenlang inhaftiert). Oder zuletzt der Brite Peter Tatchel, der für die Sicherheit Homosexueller demonstriert hatte (verhaftet).
Die Medien in Katar ignorieren die heimische Menschenrechtslage weitgehend. Auch Al Jazeera, der einflussreichste arabische TV-Sender, der in Doha seinen Sitz hat. Unabhängige Tageszeitungen und Onlinemedien sucht man dort vergebens. Reporter ohne Grenzen listet Katar auf Rang 119 von 180 in Sachen Pressefreiheit.
In Katar ist es viel zu heiß für eine Fußball-WM.
Stimmt teilweise.
Im Juli hat es Spitzen von bis zu 50°C. Nach der Vergabe kamen die Zweifel. Die medizinische Kommission der FIFA drängte auf einer WM in den katarischen Wintermonaten. Wo es „nur“ rund 30 Grad Celsius hat.
24 Grad soll es nun laut FIFA-Vorgabe in den WM-Stadien haben. Zigtausende Klimaanlagen sorgen dafür. Dafür wird entsalztes Meerwasser gekühlt und unter den Rängen in Rohren verteilt – „100 Prozent klimaneutral“, garantieren die Organisatoren. Die Behauptung der klimaneutralen WM wird von Forschern und Forscherinnen allerdings heftig angezweifelt. Schon allein deshalb, weil es offenbar zu wenige Unterkünfte gibt und Fans teilweise auf Pendelflüge ausweichen müssen. Bis zu 160 solcher Kurzstreckenflüge soll es täglich während der 28 WM-Tage geben.
Katar unterstützt den internationalen Terrorismus.
Stimmt teilweise.
Die Muslimbruderschaft wird in Ägypten, in Tunesien, in vielen anderen Ländern – auch in Europa – von Katar unterstützt. Es hat aus Katar auch Unterstützung für Gruppierungen gegeben, die in Österreich und Deutschland auf der Terrorliste stehen – etwa in Syrien oder Libyen. Katar behauptet allerdings, dass diese Politik seit 2015 beendet ist. Es gibt aber weiterhin Hinweise, dass sie noch betrieben wird, sagt Islamwissenschafter Guido Steinberg.
Doch die Katarer seien diesbezüglich vorsichtiger geworden. Insgesamt habe das Land ein „entspannteres Verhältnis zu Islamisten", als es in Europa der Fall ist. Das sei eben in manchen Jahren zum Problem geworden. „Aber wir müssen uns auch klar machen, dass die Kataris in ihrer Region mit diesen Islamisten leben müssen. Das macht sie nicht richtiger, aber das macht sie zumindest nach nachvollziehbarer."
Kommentare