Renaturierung: Was Sie zum EU-Gesetz und zum Koalitionsstreit wissen müssen
Im heutigen Rat der Umweltminister in Luxemburg wurde das EU-Renaturierungsgesetz abgesegnet. Österreichs Ministerin Leonore Gewessler (Grüne) hat gegen den Willen der ÖVP dafür gestimmt.
Worum geht es bei dem EU-Vorhaben eigentlich und warum riskieren die Grünen dafür die Koalition? Der KURIER klärt die wichtigsten Fragen.
Worum geht's bei der Renaturierung?
Das geplante EU-Renaturierungsgesetz ist Teil des Klimaschutzpakets „Green Deal“, mit dem die EU bis 2050 klimaneutral werden soll. Konkret geht es um die Wiederherstellung biologisch vielfältiger Ökosysteme. Also unter anderem um die Aufforstung von Wäldern, die sogenannte Wiedervernässung von Mooren und die Wiederherstellung natürlicher Flussläufe. Weiters geht es um Ökosystemen in Meeren, aber auch um Natur in städtischen Umgebungen.
Gemäß dem Gesetz müssen die Mitgliedstaaten Pläne vorlegen, wie in einem ersten Schritt bis 2030 mindestens 30 Prozent der definierten Lebensräume von einem schlechten in einen guten Zustand überführt werden sollen. Bis 2040 geht es dann um 60 und bis 2050 um 90 Prozent.
Der Hintergrund: Rund 80 Prozent der europäischen Lebensräume würden sich laut EU-Kommission in einem schlechten Zustand befinden. Die Wiederherstellung sei eine entscheidende Investition in Ernährungssicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden.
Wie liefen die Verhandlungen auf EU-Ebene ab?
Im Mai 2023 wurde das Gesetz im EU-Agrarausschuss abgelehnt. Als Folge wurden mit Rücksicht auf die Landwirtschaft einige Punkte abgeändert - in Summe 136. So gilt bei der Wiedervernässung von entwässerten Torfgebieten für Landwirte und private Grundbesitzer die Freiwilligkeit. Ebenso können die Zielvorgaben für landwirtschaftliche Ökosysteme unter außergewöhnlichen Umständen ausgesetzt werden, wenn dadurch die Fläche stark verringert würde, die nötig ist, um genug Lebensmittel zu erzeugen.
Ende Februar 2024 stimmte das EU-Parlament einem Kompromiss zum EU-Naturierungsgesetz mit knapper Mehrheit zu. Demnach müssen die EU-Staaten bei zwei der folgenden drei Indikatoren Fortschritte erzielen, um für mehr Artenvielfalt in landwirtschaftlichen Ökosystemen zu sorgen: beim Index der Wiesenschmetterlinge, beim Anteil der landwirtschaftlichen Flächen mit Landschaftselementen mit großer biologischer Vielfalt und beim Bestand an organischem Kohlenstoff in mineralischen Ackerböden. Außerdem müsse auf einen höheren Feldvogelindex abgezielt werden, da sich am Vogelbestand gut ablesen ließe, wie es insgesamt um die Artenvielfalt bestellt sei.
Die letzte Hürde für das Renaturierungsgesetz, die qualifizierte Mehrheit (mindestens 15 von 27 Mitgliedstaaten, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung abbilden) im EU-Rat, wurde am Montag genommen.
Warum sind die Grünen dafür?
Für Umweltministerin Gewessler und die Grüne Partei ist erwiesen, dass das europäische Renaturierungsgesetz umwelt- und wirtschaftspolitisch wichtige Verbesserungen bringt. Das Gesetz ziele darauf ab, degradierte bzw. kaputte Öko-Systeme zu renaturieren und die Biodiversität, also die Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren, wieder zu verbessern.
Gesunde Öko-Systeme seien widerstandsfähiger gegenüber extremen Wetter-Phänomenen wie Überschwemmungen, Starkregen oder Stürmen und Dürre. Zudem verbessere eine gesunde Natur die Lebensqualität und erhöhe die Produktivität der Landnutzung, weil gesündere Böden mehr Ertrag bringen und weil renaturierte Gebiete attraktive Ziele für Touristen und Erholungssuchende sind.
Warum ist die ÖVP dagegen?
Die Volkspartei ist ideologisch und fachlich gegen das Renaturierungsgesetz. „Wir sind grundsätzlich klar für Renaturierung zur Stärkung von Biodiversität und Klimaschutz“, sagte schon vor Wochen der EU-Abgeordnete Alexander Bernhuber, Agrar- und Umweltsprecher der ÖVP im Europaparlament. Die Kanzlerpartei sieht in dem nun vorliegenden Gesetz allerdings nach wie vor einen „zentralistischen Eingriff in die Subsidiarität und in die Eigentumsrechte unserer nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft“ – und das wiederum beeinträchtige die Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln. Viele Kritikpunkte in Bezug auf Zweckmäßigkeit, Verhältnismäßigkeit, fehlende Finanzierung und Eingriff in Länderkompetenzen seien nach wie vor ungelöst. Eine der zentralen Fragen ist hier, wie die Renaturierung finanziert wird.
Darauf stützte auch Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) ihre Ablehnung: Sie spricht von einem "154-Milliarden-Belastungspaket aus Brüssel", das man in Niederösterreich nicht brauche, da man bereits jetzt viel in Hochwasserschutz und Naturschutzgebiete investiere.
Wie haben sich die Länder in der Debatte verhalten?
Die anfangs einheitlich ablehnende Position der Bundesländer wurde im Mai von Kärnten und Wien durchbrochen. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig und Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser (beide SPÖ) haben am 17. Mai einen Brief an ihre Amtskollegin Mikl-Leitner geschickt (sie steht derzeit der Landeshauptleutekonferenz vor, Anm.).
In diesem stellen sie klar, dass die beiden Länder nun doch für das Renaturierungsgesetz sind. Das Nein habe sich auf die Situation vom Vorjahr bezogen, zuletzt sei das Gesetz aber nachgebessert und entschärft worden. So sehe der „aktuelle Entwurf“ auch zahlreiche „Ausnahmeregelungen“ vor. Das einzige Problem sehen Ludwig und Kaiser nun vor allem bei der Finanzierung – diese sei aber Angelegenheit des Bundes.
Wieso ist das Thema in der Koalition eskaliert?
Das Ausscheren von Kärnten und Wien war offenbar die Initialzündung für Klimaministerin Gewessler: Aus ihrer Sicht gebe es jetzt keine "einheitliche Stellungnahme" der Bundesländer mehr. Die Entscheidungskompetenz sah sie nun ganz klar bei sich als ressortzuständiger Ministerin.
Und so erklärte sie am Sonntag dann in einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz, dass sie tatsächlich plane, beim Umweltministerrat in Luxemburg für das Gesetz zu stimmen. Da war noch nicht klar, ob es wirklich zu einer Abstimmung kommen wird, Gewessler erklärte aber, sie werde dafür kämpfen, einen weiteren Aufschub könne sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren.
Sie stellt sich damit klar gegen den Willen des Koalitionspartners ÖVP - der entsprechend heftig reagierte: Verfassungsministerin Karoline Edtstadler warf ihr "Gesetzes- und Verfassungsbruch" vor und drohte mit rechtlichen Konsequenzen, Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig warf ihr vor, sie würde "aus ideologischen Gründen mit der Brechstange" für das Gesetz stimmen. Als erster ÖVP-Landeshauptmann nahm dann am späteren Abend Vorarlbergs Markus Wallner auch das Wort "Koalitionsbruch" in den Mund.
ÖVP-Kanzler Nehammer, aber auch der grüne Vizekanzler Kogler hielten sich zunächst jeweils bedeckt: Nehammer meinte, er gehe davon aus, dass sich Gewessler an die Verfassung halten würde; Kogler erklärte, seine Ministerin werde sich juristisch schon gut beraten haben lassen.
Welche Positionen gibt es in diesem Rechtsstreit?
Gewessler argumentiert, dass die Kompetenz zur Abstimmung bei ihr als zuständiger Ministerin liege. Auch ÖVP-Landwirtschaftsminister Totschnig habe schon einmal gegen den Willen der Grünen für die Abschwächung der Agrarrichtlinien gestimmt. Und das Länder-Veto habe (wie oben beschrieben) keine Gültigkeit mehr.
Da widersprechen ihr Verfassungsjuristen wie Peter Bußjäger und Walter Obwexer sowie der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt. Obwexer erklärte im KURIER, dass erstens die negative Stellungnahme aufrecht sei, weil der Länderbeschluss "formal nie aufgehoben" wurde. Zweitens brauche Gewessler sehr wohl die Zustimmung des Landwirtschafts- und Finanzministers, weil das Gesetz auch deren Ressorts betreffe.
Welche Macht hat der Kanzler in diesem Streit?
Am Montag wurde bekannt, dass Kanzler Nehammer noch am Sonntag den belgischen Ratsvorsitz kontaktiert hat. Er informierte die Belgier, dass eine Zustimmung von Klimaministerin Gewessler rechtswidrig wäre, weil die Willensbildung nicht verfassungskonform zustande gekommen sei. Daher müsse es bei der Stimmenthaltung Österreichs bleiben.
Der zuständige Minister in Belgien, Alain Maron, erklärte daraufhin, dass für ihn das Wort Gewesslers im Raum zähle. Der Rest sei eine "innerösterreichische Kontroverse, die mich nichts angeht".
Nehammer stützt sich hier auf die fehlende Verfassungskonformität - denn eine "Richtlinienkompetenz" in dem Sinne, dass er als Regierungschef der Ministerin etwas befehlen könnte, gibt es in Österreich nicht.
Nach erfolgter Abstimmung - und nachdem Österreichs Stimme entscheidend war - will das Kanzleramt nun eine Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof einbringen.
Was sagt eigentlich der Bundespräsident dazu?
Nichts. Die Präsidentschaftskanzlei von Alexander Van der Bellen will die Causa nicht kommentieren. Seitens der Bundesregierung sei jedenfalls noch niemand an sie herangetreten.
Wenn sich der Streit weiter auswächst, hätte er theoretisch die Macht, die Regierung zu entlassen - einzelne Minister nur auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Apropos:
Welche Konsequenzen drohen jetzt?
Die Nichtigkeitsbeschwerde ist die erste rechtliche Konsequenz, die von der ÖVP konkret angekündigt wurde - im Raum stehen aber auch persönliche Konsequenzen für Gewessler als Ministerin.
Der nächste Knalleffekt: Die ÖVP hat eine Anzeige wegen Amtsmissbrauchs gegen Gewessler eingebracht, wie Generalsekretär Christian Stocker Montagmittag bekanntgab. Laut Paragraf 302 im Strafgesetzbuch ist ein Beamter, der mit dem Vorsatz, andere an ihren Rechten zu schädigen, seine Befugnis missbraucht, mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
Möglich wären auch noch ein Misstrauensvotum bzw. eine Ministeranklage im Nationalrat. Dafür müsste sich die ÖVP allerdings mit der FPÖ verbünden - ein politisch heikles Bündnis, gerade in Hinblick auf den nahenden Wahlkampf. Die FPÖ - in Person von Parteichef Herbert Kickl - wurde von der Nehammer-ÖVP ja schon vor Monaten zum Feindbild erklärt.
Eine weitere Option wäre, dass Kanzler Nehammer dem Bundespräsidenten die Entlassung von Gewessler als Ministerin vorschlägt.
Welche Regierungsprojekte stehen jetzt auf der Kippe?
KURIER-Recherchen nach: alle. Die türkis-grüne Koalition hatte jedenfalls noch im Sinn, das letzte Drittel der Kalten Progression abzuschaffen, zudem u.a. das Elektrizitätswirtschaftsgesetz, das die Preisgestaltung flexibler machen sollte, umzusetzen.
Doch all diese gesetzlichen Vorhaben – von Vollspaltböden bis ORF-Gesetz - scheinen nun ebenso passé zu sein wie die noch ausstehenden Postenbesetzungen. Allen voran der künftige EU-Kommissar in Brüssel (derzeit Johannes Hahn), den laut Sideletter die ÖVP nominiert und die Bestellung des OeNB-Gouverneurs (ÖVP-Arbeitsminister Martin Kocher hat sich dafür beworben).
Dem Vernehmen nach wollen ÖVP und Grüne trotz Gewesslers Ja und Nehammers Nein bei der Renaturierung die Koalition nicht aufkündigen, sondern bis zum Herbst weiterarbeiten – allerdings keine Projekte mehr umsetzen.
Dass Österreich angesichts all dessen vor dem 29. September wählen gehen wird, ist ausgeschlossen – weil gesetzlich nicht möglich. Die Frage hatten sich einige Beobachter gestellt, nachdem Emmanuel Macron nach der EU-Wahl für den 7. Juli Neuwahlen in Frankreich ausgerufen hatte.
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