Hirnforscher: "Führungskräfte brechen in Tränen aus"

Bernd Hufnagl, Neurobiologe und Autor des Buches "Besser fix als fertig"
Seit Jahren sehnt sich die Wirtschaft nach einem 12-Stunden-Tag. Nur so würden heimische Unternehmen den globalen Wettbewerb überleben. Aber wie flexibel wollen wir noch arbeiten, fragt Neurobiologe Bernd Hufnagl.

Ende Jänner waren Neuwahlen noch vom Tisch. Die Große Koalition hat sich nach einer Krise wieder aufgerappelt, ein neues Regierungsprogramm mit Job-Bonus, Gratis-Tablets und Verschärfung des Fremdenrechts passierte die Gremien. Ein besonders heikler Punkt wurde an die Sozialpartner ausgelagert. Bis Ende Juni sollte sich die "Nebenregierung" um die Arbeitszeitflexibilisierung kümmern.

Obwohl die Verhandlungen gescheitert sind, werden Wirtschaftsvertreter nicht müde zu betonen, dass sich die gegenwärtige Arbeitszeitregelung (Höchstarbeitszeit: zehn Stunden) negativ auf den Standort Österreich auswirke. Zusammengefasst: Wir arbeiten zu unflexibel.

In seinem Büro im 7. Wienergemeindebezirk sitzt Bernd Hufnagl und denkt nach. Für einen kurzen Moment ist es still. Nur das dumpfe Brummen der Klimaanlage ist zu hören. "Eigentlich geht's ja nicht mehr flexibler", sagt der Neurobiologe, "wir stecken die Arbeit in die Hosentasche, fahren in den Urlaub und packen dort die Arbeit am Strand wieder aus."

Hufnagl, ein soignierter Mann mit sonorer Stimme und der Gabe, komplexe Sachverhalte anhand von Geschichten zu erzählen, weiß wovon er spricht. Seit Jahren berät der Hirnforscher Unternehmen im betrieblichen Gesundheitsmanagement.

Im KURIER-Gespräch berichtet er aus der Praxis, erklärt, warum die Arbeitszeitflexibilisierung eine "Scheinflexibilisierung" ist und wovor sich Arbeitnehmer fürchten müssen.

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KURIER: Herr Hufnagl, wie bewerten Sie die Forderung nach einer Arbeitszeitflexibilisierung und einem 12-Stunden-Tag?

Bernd Hufnagl: Grundsätzlich verstehe ich, dass die Wirtschaft darauf drängt. Die Globalisierung und die internationale Konkurrenz hängen der Industrie im Nacken. Wenn Mitarbeiter flexibel sind und bei Bedarf zwölf Stunden arbeiten, erwarten sich viele CEOs einen Wettbewerbsvorteil.

Aber aus Sicht der Arbeitnehmer: Wie wirkt sich ein 12-Stunden-Tag auf den Organismus aus?

Wir sind, allerdings nur für kurze Zeit, in der Lage, zwölf oder sogar sechzehn Stunden am Stück zu arbeiten. Es ist nicht die Menge an Arbeit, die Menschen fürchten müssen. Ganz im Gegenteil, es gibt beispielsweise Phasen, in denen man am Wochenende einmal durchgearbeitet hat. Deshalb ist man noch nicht erschöpft oder krank geworden.

Wovor müssen sich Arbeitnehmer dann fürchten, wenn nicht vor Mehrarbeit?

Vor dem gefühlten Grad an Fremdbestimmung. Egal, ob zehn oder zwölf Stunden, das ist in diesem Zusammenhang völlig irrelevant. Es geht um das Gefühl der Menschen, eine Leistung zu erbringen, die auch anerkannt wird. Das hängt mit Dopamin zusammen, dem Hormon, das Glücksgefühle auslöst und unser Belohnungszentrum anspricht. Dopamin wird aber nur dann ausgeschüttet, wenn wir zeitnah sehen, wofür wir uns angestrengt haben. Wenn das nicht der Fall ist, produzieren wir weniger Dopamin, verlieren unsere Motivation und haben das Gefühl, nur noch Passagier auf einem großen Kreuzfahrtschiff zu sein. Führungskräfte des mittleren Managements brechen im Vieraugengespräch in Tränen aus, weil sie nur noch funktionieren müssen. Sie glauben nicht mehr daran, dass sie ihre gesteckten Ziele erreichen können.

Könnte eine flexible Zeiteinteilung eine Dopaminproduktion auslösen?

Die Frage lautet: Können wir uns die Zeit überhaupt selbst einteilen? Ich habe Situationen erlebt, in denen der Chef sagt: "Heute kannst du nicht von zuhause aus arbeiten, weil wir das Projekt X abschließen müssen." Eine Arbeitszeitflexibilisierung wird immer getrieben sein von den Anforderungen des Arbeitgebers und nicht von den Bedürfnissen des Arbeitnehmers. Oder glauben Sie, die primäre Intention hinter der Flexibilisierung ist, die Gesundheit des Mitarbeiters, des wichtigsten Gutes des Unternehmens, zu fördern? Nein. Das habe ich aus der Diskussion noch nie rausgehört. Fragen Sie mal Flugbegleiter, wie es ihnen in ihrer Arbeit geht. Vor vielen Jahren haben wir bei Austrian Airlines Gesundheitsseminare durchgeführt und keiner hat gesagt, "ich bin super flexibel, das ist total klass‘". Sie sitzen zuhause, das Telefon in der Hand und warten, bis sie wieder fliegen. Flexibel klingt super, aber für ganz viele Menschen ist es das nicht. Sie wollen wissen, woran sie sind und möchten sich darauf einstellen können.

In Ihrem Buch "Besser fix als fertig" schreiben Sie allerdings, dass sehr viele Menschen bereit sind, in ihrer Freizeit zu arbeiten.

Das kann zu einem Problem werden. Viele unserer Maßnahmen beschäftigen sich damit, den Menschen klar zu machen, sie sollen, wenn sie in Lignano am Strand liegen, die Finger vom Arbeitsgerät lassen. Ja, es gibt Unternehmen, in denen der Vorstand sagt, die oberste Ebene wird fürstlich bezahlt, deshalb muss sie ständig erreichbar sein. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 52 Wochen im Jahr. Unsere Daten zeigen: Je weiter unten in der Hierarchie, desto häufiger glauben Menschen, in der Freizeit arbeiten zu müssen. Wissen Sie, woran das liegt?

Nein.

Am Oxytocin, dem Bindungs-, Beziehungs- oder Liebeshormon. Wir wollen geliebt werden, Lob vom Chef erhalten oder auf Facebook gelikt werden. Ein Beispiel: Es ist Sonntag, 23 Uhr. Sie liegen bereits im Bett, haben ein gutes Wochenende hinter sich, sind gut drauf, machen aber das, was über 70 Prozent der Arbeitnehmer tun: Sie checken vor dem Schlafengehen Ihre E-Mails. Sie sehen, dass Ihr Chef um 22.50 Uhr geschrieben hat: "Kannst du mir bitte, weil ich am Montag die Sitzung habe, bis zehn Uhr die Informationen senden?" Sie denken sich nichts dabei und senden ihm sofort die Informationen zu. Ihr Chef liegt auch schon im Bett, liest die Antwort und macht dann etwas, was er unter der Woche, wenn Sie ihm eine E-Mail schreiben, nie machen würde. Er schreibt: "Danke, super gemacht." In dieser Sekunde produziert Ihr Gehirn Oxytocin.

Ich habe das Gefühl, vom Chef geliebt zu werden?

Ja. Wenn Sie einmal zurückschreiben, passiert vielleicht nichts. Aber nach drei-, vier-, fünfmal kommt es zu einem Lernprozess in Ihrem Gehirn. Sie werden zu unmöglichen Zeiten ihre E-Mails checken, weil Sie jemandem, zum Beispiel Ihrem Chef, eine Freude machen wollen. Das alles passiert, ohne dass Sie es bemerken.

Seit wann tun wir das?

Seit 150 Millionen Jahren. Neu ist nur, dass wir uns das Hormon Oxytocin in der digitalen Welt holen können. Wir wollen immer geliebt, wahrgenommen und beachtet werden. Wenn wir eine Form der Beachtung bekommen haben, die wir sonst nicht bekommen, ist es umso schöner.

Wie ist Ihre Erfahrung als Unternehmensberater? Wollen Konzernchefs, dass Mitarbeiter in der Freizeit arbeiten?

Wenn wir dieses Thema rational diskutieren, wollen sie es natürlich nicht. In der Realität sieht die Sache anders aus. Wir leben in einer total ambivalenten Welt, wo das eine gesagt wird, das andere tatsächlich gelebt. Ich sage Führungskräften immer, dass es ein absolutes No-Go ist, E-Mails außerhalb der Kernarbeitszeit abzusenden. Man kann E-Mails schreiben und verzögert absenden. Oder wenn die Hütte brennt, keine E-Mails senden, sondern SMS.

Der Arbeitnehmer müsste nicht antworten bzw. er kann ja die Überstunden aufzeichnen.

Wissen Sie, wie sowas in der Praxis gehandhabt wird? Das muss ich Ihnen doch nicht sagen, oder? Hinter verschlossenen Türen zeigen mir Personalchefs die frisierten Excel-Tabellen für das Arbeitsinspektorat. Das ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Viele Arbeitnehmer löschen ja schon selbst ihre Überstunden und sagen, dass sie die depperte Diskussion mit dem Personalchef nicht mehr wollen. Und was auch immer häufiger wird: Menschen kommen krank und erschöpft in die Arbeit, weil sie Angst haben, dass der Kollege, der auch schon erschöpft ist, ihre Arbeit auch noch machen muss. Wenn Sie mich fragen: Die Arbeitszeitflexibilisierung gibt es schon längst. Noch nie war es so einfach, immer und überall zu arbeiten.

Wieso überhaupt die Debatte um den 12-Stunden-Tag?

Ganz einfach: Heute müssen Unternehmen schneller und effizienter sein, merken aber, dass sie mit ihrer Herangehensweise immer wieder mit dem Arbeitnehmerschutzgesetz in Konflikt geraten. Sie fordern von der Politik, nachvollziehbarerweise, den 12-Stunden-Tag. Die Verantwortlichen wissen ja ganz genau, dass viele Mitarbeiter schon längst zwölf Stunden arbeiten. Man will aus dieser kriminalisierten Ecke rauskommen. Das wird das Problem, dass Menschen unmotiviert in die Arbeit kommen und sich fremdbestimmt fühlen, aber nicht lösen.

Was wäre aus neurobiologischer Sicht die Lösung?

Wir müssen dafür sorgen, dass das Bindungshormon Oxytocin und das Belohnungshormon Dopamin fließen. Wenn Menschen sozial ausgegrenzt werden und das Gefühl haben, dass das, was sie tun, nicht lohnenswert ist, dann werden sie müde, lustlos und im schlimmsten Fall krank.

Fließen bei Ihnen genügend Dopamin und Oxytocin?

Ich kann mir meine Freizeit einteilen, weil ich einen Freiheitsgrad habe, wie ihn wohl kein Angestellter hat. Ich kann "Nein" sagen und das tue ich auch. Es hat gefühlte sieben, acht Jahre gedauert, bis ich begonnen habe, Dinge abzulehnen, weil sie meinen Tag zu sehr zugepflastert hätten. Das heißt, ich habe als Selbstständiger seit wenigen Jahren das Privileg, mir meinen Tag so einteilen zu können, wie es meiner Gesundheit und meinem persönlichen Motiv, wie mein Leben ausschauen soll, gut tut. So etwas würde einer echten Arbeitszeitflexibilisierung entsprechen, ist aber in komplexeren Strukturen schwierig.


Zur Person: Bernd Hufnagl ist Neurobiologe und Unternehmensberater. Er war mehrere Jahre im Bereich Hirnforschung am AKH Wien tätig. Heute spezialisiert sich der Forscher auf betriebliches Gesundheitsmanagement.

Hinweis des Autors: Eine Kurzfassung des Interviews erschien am 3. Juli in der KURIER-Tageszeitung. Wir können gerne über das Thema des Artikels ("Arbeitszeitflexibilisierung & 12-Stunden-Tag") diskutieren. Sie erreichen mich unter der E-Mail-Adresse juergen.klatzer@kurier.at.

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