Gesundheitsminister Anschober: "Wir müssen uns zusammenreißen"
KURIER: Die täglichen Infektionszahlen sind im knapp dreistelligen Bereich, aktuell sind über 1000 Menschen in Österreich infiziert - so viele wie beim Lockdown. Wie bedenklich ist die Situation?
Rudolf Anschober: Wir müssen vorsichtig sein in Phase drei, in der wir uns jetzt befinden. In Phase eins ging es darum, die exponentiellen Anstiege von 40 bis 50 Prozent pro Tag zu drücken – jetzt sind wir bei einem Prozent. Phase zwei waren die Öffnungen und jetzt sind wir in der Stabilisierung nach der Öffnung. Wir haben immer damit gerechnet, dass es in dieser Phase zu regionalen Ausbrüchen kommen kann wie in Wien, Salzburg oder Niederösterreich. Der Ausbruch in Oberösterreich jetzt ist aber viel gravierender, ein sehr ernstzunehmender.
Haben wir es auch mit einem ernst zunehmenden Zahlenproblem zu tun: Es gibt Zahlen des Epidemiologischen Meldesystems (EMS) und jene der Landessanitätsdirektionen – und diese divergieren.
Das ist einfach erklärt: Wir haben das EMS und wir haben die Morgenmeldung der Länder. Diese ist aktueller, weil es manchmal wegen Überlastungen zu Verzögerungen der Dateneingabe der Bezirksbehörden in das EMS kommt. Die Verzögerung beträgt allerdings im Regelfall nur Stunden – nicht mehr.
Gibt es abseits von Schlachthöfen Branchen oder Orte, die besonders gefährdet sind?
Seit Donnerstag führen wir Screening-Tests durch, an Orten, wo Fachexperten von einem Risiko ausgehen. Das hat nichts mit einer Punzierung zu tun. Vielmehr sehen wir international, dass dort, wo prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse herrschen, wo sich Betroffene unsicher sind, ob sie zwei Wochen in Quarantäne gehen oder in Krankenstand können, ein Risiko gegeben sein könnte. Die wollen wir uns ansehen, denn diese erfassen wir mit der Hotline 1450 nicht. Manche rufen nämlich nicht an. Ebenso wenig wie asymptomatische Personen.
KURIER Talk Rudolf Anschober
Was bedeutet Asymptomatik genau?
Sie haben sich angesteckt, spüren aber nichts davon, weil sie weder Fieber, Halsschmerzen noch Geruchsverlust haben, die dazu führen, dass man normalerweise 1450 anruft. Die Hotline war unsere Antwort auf italienische Verhältnisse, weil wir nicht wollten, dass infizierte Personen in das Spital gehen und sich dort behandeln lassen, andere womöglich infizieren.
Die Bundesregierung hat Länder und Leute in die Eigenverantwortung entlassen. Ein Blick in die öffentlichen Verkehrsmittel oder Schanigärten zeigt: Der Hausverstand ist in Ferien.
Das Risikobewusstsein hat bei einem Teil der Bevölkerung dramatisch abgenommen. Ich verstehe, dass viele müde geworden sind nach Monaten einer belastenden Situation. Nach vielen Gesprächen auch am Wiener Donaukanal habe ich den Eindruck, manche meinen, das Virus ist vorbei. Das ist ein folgenschwerer Irrtum. So bedauerlich ein regionaler Cluster ist: Er macht für jedermann sichtbar, dass es in Österreich jederzeit zu einem Ausbruch kommen kann. Die Kennzeichnung des Status Quo in den Bundesländern soll nun durch eine Corona-Ampel transparenter werden. Von grün – einer sehr guten Situation– bis gelb, orange und rot, einer sehr alarmierenden Situation.
In vielen Ländern ist die Situation besser als in Österreich. Die Rufe nach einer österreichweiten Maskenpflicht werden lauter. Sind Strafen wie beim Verstoß gegen Quarantäne von bis zu 1450 Euro ein probates Mittel?
Vorrangig geht es um eine Bewusstseinsfrage. Viele haben die letzte Zeit als Atempause genommen – doch das ist eine Fehleinschätzung. Wir müssen uns in Österreich wieder zusammenreißen. Jetzt wird die Grundlage geschaffen für die nächste, große Herausforderung. Mitte September, Anfang Oktober rechnen wir nochmals damit, dass es schwieriger wird.
Warum wird es genau dann schwieriger?
Je nach Temperatursituation, und wenn wir uns wieder indoor aufhalten, dann steigt – das wissen wir – das Risiko. Unser prioritäres Ziel ist es, eine zweite Welle zu verhindern.
Den Anstieg, den wir jetzt haben, ist keine zweite Welle oder Dauerwelle, sondern Teil der ersten?
Wir hatten eine erste Welle, die wir gedrückt haben – im internationalen Konnex sehr erfolgreich. Jetzt sind wir in der neuen Phase drei, die einer Sinus-Kurve, aber keiner zweiten Welle entspricht. Ziel ist es, dass wir bei der Sinus-Kurve bleiben. Und dabei bleiben wir, wenn wir die regionalen Ausbrüche eingrenzen können, damit kein bundesweites Problem entsteht.
Was ist das Worst-Case-Szenario? Wenn in drei Bundesländern Zustände wie jetzt in Oberösterreich herrschen, dann führt die Bundesregierung wieder die Maskenpflicht ein?
Ich formuliere es umgekehrt: Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir die zweite Welle unter drei Grundvoraussetzungen vermeiden. Erstens: Sobald es bundesweit nach oben geht, entschiedene, konsequente Maßnahmen. Zweitens: Professionelles Kontaktpersonen-Management. Drittens: das Risikobewusstsein der Gesellschaft. Wir haben Antworten in der Lade, einen Aktionsplan zur Vermeidung einer zweiten Welle erarbeitet, ihr Herzstück ist die Corona-Ampel.
Das heißt?
Wir arbeiten anders als in Deutschland, wo man einen konkreten Grenzwert hat. Wir haben vier Indikatoren auf deren Basis wir ohne politische Einflussnahme den Status Österreich erheben. Es gibt schon konkrete Leitlinien was passiert, im Gegensatz zum Frühjahr, wo uns die Corona-Welle wie ein Tsunami erwischt hat und wir schnell reagieren mussten.
Für den Fall, dass eine Wiener U-Bahn zum Corona-Herd wird, die Rückverfolgung ohne App nicht möglich wird, hat die Regierung auch einen Plan in der Lade, wie ein Wiener Bezirk oder die ganze Stadt unter Quarantäne zu stellen ist wie damals Ischgl?
Nein, ich bin optimistisch, dass wir Quarantänemaßnahmen überregional überhaupt nicht brauchen, denn das wäre die zweite Welle. Wir haben zeitgerecht reagiert und "zeitgerecht" ist der Trumpf in der Bekämpfung der Pandemie. Die Corona-App des Roten Kreuz wird uns dabei helfen, sie wird die offizielle App der Bundesregierung werden und intensiv beworben.
Warum haben Sie überhaupt die Maskenpflicht in den Supermärkten aufgehoben, wenn Risikobewusstsein so wichtig ist? War das nicht zu früh?
Einigen war es zu früh, anderen zu spät.
Ich frage Sie persönlich.
Ich glaube, wir haben den richtigen Zeitpunkt erwischt. Aber selbstverständlich ist es möglich, dass man das jederzeit wieder korrigiert. Sollten es die Zahlen erforderlich machen, kann im Herbst der Mund-Nasen-Schutz wiederkommen. Die Maske ist so etwas wie das Schärfen des Alarmsystems des Einzelnen. Es ist ein Signal: Jetzt ist eine Situation, wo wir noch mehr aufpassen müssen.
Haben Sie das Gefühl, dass die 14-tägige Quarantäne von den Österreichern aus Pflicht- oder Schuldgefühl eingehalten wird?
Ja. Es gibt auch Stichproben. In Oberösterreich wird derzeit sehr streng kontrolliert, das Angebot der Exekutive zu helfen, angenommen. Ich finde das auch richtig, weil es auch einzelnen Erfahrungen von den Behörden gab, die nicht so positiv waren.
Als Grünpolitiker gefragt, gehen Ihnen die Befugnisse nicht zu weit?
Was als Novelle beschlossen wird, das ist ein Angebot der Exekutive. Entscheidend ist, dass die Befragungen, wer mit wem Kontakt hatte, schnell gehen. Das konnte die Polizei jetzt schon. Jetzt darf dazu gefragt werden: Hatten Sie Symptome und wenn ja, wann. Jeder Tag Verzögerung beim Kontaktpersonenmanagement erhöht das Risiko der Ausbreitung.
Wie oft haben Sie schon einen Test gemacht?
Noch nie.
Tests gibt es bald auch in Drogeriemärkten und Apotheken, ist das der richtige Weg?
Wir haben bis dato 675.000 Tests in Österreich. Weil es aber viele Symptomfreie gibt, sind wir zu den Screening-Tests übergegangen, für die wir heuer 240 Millionen Euro ausgeben. Jeder Fall, den wir jetzt finden, ist positiv, weil damit klar wird, wo Probleme liegen.
Wenn die zweite Welle kommt, werden dann Kindergärten und Schulen wieder geschlossen?
Wogegen ich bin - und da bin ich mit dem Bildungsminister zu 100 Prozent eins - das ist ein Automatismus zu Schließung von Schulen als Reflex nach steigenden Zahlen. Wir müssen definieren: Wo sind die Ursachen? Was ist der Ausgangspunkt? Wir profitieren ungemein von der Clusteranalyse, die wir täglich erstellen.
Profitieren Sie auch von anderen Ländern? Israel, das Kanzler Kurz immer als Referenz nennt, schließt gerade wieder.
Wir haben von Beginn an zwei Schienen praktiziert. Internationale und österreichische Expertinnen und Experten beizuziehen und auf Länder zu schauen, von denen wir uns etwas abschauen können. Israel, Südkorea, Singapur waren solche Staaten. Was wir jetzt sehen ist, dass Länder - die Zeit erfolgreich waren bei der Bekämpfung der Pandemie wie Israel oder Singapur - Rückfälle haben. Ich arbeite etwa eng mit den deutschsprachigen Gesundheitsministern. Was ich am großartigsten finde, das ist die Entwicklung in Italien. Zwei Drittel der Regionen haben bessere Zahlen als wir und mittlerweile ist sogar die Lombardei auf gutem Kurs. Nach der Katastrophe gelingt mit harter Arbeit die Trendwende.
Welches R bereitet Ihnen mehr Sorge: der Replikationsfaktor als Gesundheits- oder die Rezession als Sozialminister?
Das Schlimmste, was uns wirtschafts- und sozialpolitisch passieren kann, das wäre die zweite Welle. Die WHO sagt, das ist die schwerste Pandemie seit 100 Jahren. Der IWF sagt, das ist die schwerste Rezession seit 90 Jahren. Um jenen zu helfen, die unverschuldet in der Krise sind, bin ich als Sozialminister jetzt natürlich um jeden Euro froh, der investiert wird. Vor allem in neue Beschäftigungsangebote.
Die WHO wird durch den Ausstieg der USA massiv Geld verlieren.
Eine Katastrophe, da wird sich Europa mehr engagieren müssen und die EU insgesamt. Es ist verheerend, welche Zeichen Trump setzt. Gegen den Multilateralismus, denn gerade die Pandemie zeigt uns: Es geht nur mit internationaler Kooperation und starken internationalen Organisationen.
Die SPÖ will die 4 Tage Woche, Wien Grünen-Chefin Hebein die 35-Stunden-Woche bei vollem Bezug. Muss die Regierung eingedenk anhaltend hoher Arbeitslosenzahlen darüber nachdenken?
Neben der Bekämpfung der Gesundheitskrise - und das ist aus meiner Sicht der wirtschaftlich- und sozialpolitisch wichtigste Schritt - müssen wir vermeiden, dass es zu einer zweiten Welle kommt. Das ist die Voraussetzung, dass wir uns wirtschaftlich wieder erholen und damit die soziale Krise begrenzen, denn die ist da. Dass wir Zukunftspläne für den Arbeitsmarkt – Stichwort green deal und Digitalisierung – machen müssen: Ja. Wenn wir im Gesundheitssystem wie in Wien versuchen, einen derartigen Schritt wie die 35 Stunden-Woche zu gehen, hielte ich das für klug. Die Priorität hat bundesweit aber der Konjunkturimpuls und die Unterstützung für die vielen, die völlig unverschuldet auch wirtschaftlich in die Krise geraten sind.
Sie sind 6 Monate im Amt und haben nach sieben Jahren Sebastian Kurz im Politiker-Ranking an erster Stelle abgelöst. Bürde oder Freude?
Weder noch. Für mich ist Politik kein Wettrennen und kein Schönheitswettbewerb, sondern ein harter Job, in dem man Verantwortung trägt und Probleme zu lösen hat. Das alleine zählt.
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