Lösung am Verhandlungstisch?
Für Kiew steht viel auf dem Spiel: Scheitert der Gegenstoß, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die westliche Waffenhilfe abnimmt, der Druck auf Friedensverhandlungen steigt.
Erst vergangene Woche sprach US-General Mark Milley zum wiederholten Male davon, dass ein Sieg wie ihn Kiew will – also Befreiung aller ab 2014 besetzten Gebiete – „eine sehr sehr schwierige Angelegenheit“ werden würde. Des Öfteren hatte Milley bereits von einer Lösung am Verhandlungstisch gesprochen.
Gleichzeitig erhält die Ukraine weitere massive Waffenlieferungen. Neben Kampf- und Schützenpanzern dürften die Streitkräfte auch eine bis dato unbekannte Anzahl an „GLSDB“-Gleitbomben erhalten haben. „GL“ bedeutet, dass sie vom Boden aus abgefeuert werden, „SDB“ bedeutet „small diameter bomb“, also eine Bombe mit geringem Durchmesser.
Die Gleitbombe fährt im Flug zwei Tragflächen aus, gleitet dann GPS- oder lasergesteuert zum Ziel. Ihre Reichweite beträgt 150 Kilometer – also fast das Doppelte der derzeitigen HIMARS-Munition, die die ukrainischen Streitkräfte derzeit einsetzen.
Neuer "Gamechanger"?
Galt das HIMARS vergangenen Sommer als „Gamechanger“, weil damit präzise russischen Munitionslager oder Kommando-Unterstände getroffen werden können, dürften die GLSDB – sofern sie tatsächlich bereits im Einsatz sind – erneut für Probleme in der russischen Versorgung sorgen. Es kostete die russischen Streitkräfte im Sommer einige Zeit, um sich an die neue Lage anzupassen.
Ein Beispiel: Mit den Gleitbomben könnten die ukrainischen Truppen von der Südfront bei Saporischschja bis zum Asowschen Meer wirken, also jeglichen Nachschub der Russen um Melitopol beschießen.
Zudem wurden Fotos von Landungsbooten öffentlich, die die ukrainischen Streitkräfte vermutlich am Dnepr bei Cherson einsetzen werden. Ob tatsächlich für einen Großangriff auf das östliche Ufer oder als Drohgebärde, um russische Einheiten zu binden, bleibt offen.
All das dürfte bei der ukrainischen Gegenoffensive eine wichtige Rolle spielen, zumindest bei den meisten prorussischen Militärbloggern macht sich Sorge breit, ob die militärische Führung in Moskau ausreichend darauf vorbereitet ist.
Starke Befestigungen
Ein Blick auf Satellitenkarten zeigt: Seit September haben die russischen Streitkräfte ihre Stellungen stark befestigt, gleichzeitig halten sich an den Frontabschnitten Zehntausende russische Soldaten auf.
Ein großer Teil davon wurde in einem Schnellsiedeverfahren ausgebildet – das trifft allerdings auch auf einen nicht unwesentlichen Teil der neu aufgestellten ukrainischen Brigaden zu. Etwa 35.000 Menschen hätten sich dafür freiwillig gemeldet. Viel wird für die Ukraine davon abhängen, wie rasch jene Soldaten, die in Europa ausgebildet wurden, ihr Wissen an ihre neuen Kameraden weitergeben können. Und wie schnell diese lernen.
Denn während die russischen Truppen sich hauptsächlich auf Taktiken und Gefechtstechniken aus der Sowjetzeit verlassen – der Einsatz der Bataillonskampfgruppen ist de facto gescheitert – können die ukrainischen Streitkräfte auch auf das Repertoire westlicher Techniken zurückgreifen und haben diese Kombinationsfähigkeit in den vergangenen Monaten einige Male unter Beweis gestellt.
Schlägt der Gegenstoß der ukrainischen Streitkräfte fehl, ist allerdings wiederum mit einem russischen Gegenstoß zu rechnen. Über ausreichendes Material dafür verfügen die Streitkräfte des Kremls jedenfalls.
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