General Brieger zum hybriden Krieg: "Schutzmaßnahmen werden auf vielen Ebenen zu treffen sein"
Mit der Annexion der besetzten Gebiete in der Ukraine durch Russland und der Titel Mobilmachung wird der Krieg noch blutiger und zerstörerische Ausmaße annehmen. Wie beurteilen Sie die Schritte Moskaus? Was hat Putin vor?
Grundsätzlich ist diese Mobilmachung kein Zeichen der Stärke, sondern eher ein Zeichen, dass nach dem Scheitern des ersten Ansatzes in der Ukraine nun Putin nach Möglichkeiten sucht, seine Ausfälle zu ersetzen und vielleicht doch noch Erfolge auf dem Gefechtsfeld zu erzielen. Insgesamt sind die Maßnahmen eine Eskalation der Situation, aber eine unmittelbare Auswirkung auf die strategische Lage erwarten wir nicht, weil diese Reserven, die jetzt aufgeboten werden, Großteils unausgebildete oder wenig trainierte Soldaten sind.
Aber wenn jetzt diese Soldaten in einem Schnellsiedekurs ausgebildet werden und dann Aufgaben übernehmen, wie zum Beispiel den Betrieb von Checkpoints, Schutz kritischer Infrastruktur und damit die kämpfende Truppe entlasten?
Nein, das wird es nicht. Ich bezweifle auch, dass diese Soldaten wirklich effizient ausgebildet werden können. Um 300.000 Mann entsprechend auszubilden, braucht man tausende Ausbilder, die ja gar nicht zur Verfügung stehen, weil die meisten in der Ukraine bereits im Einsatz sind.
Gleichzeitig hat Putin die Drohung eines Atomwaffen Einsatzes erhöht. Wieder. Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass Russland eine Atombombe über dem Schwarzen Meer abwirft oder zündet?
Grundsätzlich ist der Einsatz taktischer Atomwaffen ein Teil der russischen Militärdoktrin. Da hat sich seit dem Kalten Krieg nichts geändert. Ich halte den Einsatz dennoch für unwahrscheinlich, weil er unkalkulierbare Risiken mit sich bringt. Ich glaube eher, dass es ein Versuch Putins ist, die Öffentlichkeit im Westen zu verunsichern.
Gesetzt den Fall, es passiert, wie sollte Europa dann darauf reagieren?
Die EU-Mitgliedsstaaten befinden sich ja nicht in einem Kriegszustand mit Russland. Bei einem derartigen Atomwaffeneinsatz würde also auch der Bündnisfall der NATO nicht eintreten. Was dann zu erwarten ist, ist eine weitere Verstärkung der Sanktionen, die ja auch in einem anderen Zusammenhang schon in Diskussion befindlich ist. Eine militärische Antwort halte ich für ausgeschlossen, solange ein solcher Einsatz auf das ukrainische Territorium beschränkt bliebe. Wenn es sich um Mitgliedsstaaten der EU und der NATO handelt, ist die Situation eine ganz andere. Trotz aller negativen Erfahrungen glaube ich nicht, dass Putin bereit wäre, die Verantwortung für eine derartige Eskalation zu übernehmen.
Die Lecks in der Nord Stream Pipeline werden von allen Seiten als Sabotage eingestuft. Gibt es bereits Indizien zur Täterschaft? Bei solchen hybriden Angriffen ist die Identifizierung der Täter, äußerst schwierig. Es gibt natürlich Vermutungen, aber entsprechende Beweise liegen nicht vor. Daher kann man dazu keine konkreten Angaben machen.
Viele Militärs und Sicherheitsexperten stellen fest, dass wir uns seit Längerem in einem hybriden Krieg mit Russland befinden. Wie beurteilen Sie diese Aussage?
Nachdem die hybriden Maßnahmen sich unter der Schwelle konventioneller oder erklärter Kriegsführung befinden, kann man dieser Aussage durchaus zustimmen. Desinformation, die Instrumentalisierung von Ökonomie, Energieversorgung oder Migration als Waffe – all diese Maßnahmen sind einer hybriden Kriegsführung zuzuordnen.
Was macht einen hybriden Krieg aus? Welche weiteren konkreten Beispiele gibt es?
Etwa die Annexion der Krim 2014 durch nicht gekennzeichnete, national nicht offiziell identifizierbare Soldaten, das waren Maßnahmen einer hybriden Kriegsführung. Die Wortschöpfung ist relativ jung, aber es gab ihn immer schon. Das beginnt mit Desinformation über Ausübung von politischem und ökonomischem Druck bis hin zu Terroranschlägen. Auch viele andere Sektoren sind betroffen, etwa der Cyberbereich ist in dem Zusammenhang zu nennen. Das heißt, das Phänomen ist nicht neu und es war sowohl im Kalten Krieg als auch danach ein Mittel der sowjetischen und nunmehr russischen Führung, im Westen für Destabilisierung zu sorgen - bis hin zur Wahlbeeinflussung, die da und dort zumindest vermutet wurde.
Nach den Pipeline-Lecks schlagen Politiker in ganz Europa Alarm, man müsse die kritische Infrastruktur besser schützen. Militärs weisen seit Jahren darauf hin. Ist es jetzt zu spät dafür, die Initiative zu ergreifen?
Nein, es ist nicht zu spät. Es sind durch den Krieg in der Ukraine verschiedene Maßnahmen verstärkt, beschleunigt und intensiviert worden. Die kritische Infrastruktur von unseren hochtechnisierten Gesellschaften ist natürlich vulnerabel. Das gilt aber auch für die russische und chinesische Gesellschaft. Schutzmaßnahmen werden auf vielen Ebenen zu treffen sein. Es geht insgesamt um die Verstärkung der Resilienz, indem man versucht, durch entsprechende alternative Systeme Abhilfe zu schaffen. Das beginnt bei so simplen Dingen wie einem Notstromaggregat und endet bei alternativen Energieträgern oder eben Systemen, die bei Ausfall eines primären Systems zugeschaltet werden können. Es ist auch in der EU eine Gruppe zur Stärkung der Resilienz und Abwehr hybrider Bedrohungen eingerichtet worden und es ist Zielsetzung des strategischen Kompasses, in diesem Bereich wirksam zu werden.
Wie könnte das Militär zivile Sicherheitsbehörden in der EU unterstützen? Etwa vergleichbar mit einem sicherheitspolizeilichen Assistenzeinsatz wie in Österreich?
Es hat schon einmal einen Vorstoß Österreichs gegeben, um auf europäischer Ebene eine solche Einbeziehung militärischer Kräfte zu veranlassen. Das ist politisch nicht realisiert worden. Derzeit ist etwa der Grenzschutz eine Aufgabe der jeweiligen Mitgliedstaaten. Wenn Engpässe auftreten, gibt es Frontex zur Unterstützung. Wenn man hier etwas verändern will, dann muss das auf der politischen Ebene eingeleitet werden.
Und da dürfte sich gerade einfach kein politischer Wille erkennen lassen?
Man darf nicht vergessen, dass jegliche Willensbildung in Europa natürlich die Zustimmung von 27 Mitgliedern erfordert. Das heißt, dieser Entscheidungsfindungsprozess ist komplex, aber ist in der Natur der Union gelegen. Gleiches gilt im Übrigen auch für die NATO. Somit ist es ein Merkmal dieser Organisationen, dass eben nur einstimmig entschieden und gehandelt wird. Das kann man als Schwäche sehen. Es hat aber natürlich auch seine Stärken, weil politische Entschlüsse, die von 27 Mitgliedsstaaten getroffen wurden, dann auch mit der entsprechenden Nachhaltigkeit verwirklicht werden.
Die NATO ist derzeit klar die Schutzmacht der EU und zahlreiche Mitglieder sind auch NATO-Mitglieder. Aber muss die EU nicht trotzdem etwas tun, um sich gemeinsam zu verteidigen, um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik tatsächlich realisierbar zu machen?
Das ist ja gerade die Zielsetzung des strategischen Kompasses, diese europäische militärische Komponente auszubauen und zu verstärken. Der strategische Kompass hat unter anderem eine Rapid Deployment Capacity, also eine Verstärkung der derzeitigen Battle Groups in der Planung, wo es nächstes Jahr eine erste Truppenübung geben soll und wo bis 2025 5.000 Mann für rasche Reaktion bereitstehen sollen. Aber die NATO ist der First Responder, wenn es um die Verteidigung Europas geht. Dennoch bin ich der Auffassung, dass, wenn sich die europäischen Streitkräfte konsolidieren, verstärken und ihre Zusammenarbeitsfähigkeit erhöhen, dass das natürlich auch die NATO stärkt. Es soll letztlich dazu führen, dass Europa auf Krisen, vor allem im eigenen Interessensraum besser vorbereitet ist.
5.000 Soldaten bis 2025 geplant, die Battle Groups, die schon seit vielen Jahren bestehen, haben bis jetzt keinen einzigen Einsatz gehabt. Ist das tatsächlich ausreichend, um als EU handlungsfähig zu sein?
Nein, es ist ein erster Schritt. Auch beim Einsatz der Battle Groups ist der politische Konsens erforderlich. Einer der wesentlichen Gründe, warum diese Kräfte bisher nicht eingesetzt wurden, ist der Umstand, dass die EU dafür keine Gelder bereitgestellt hat. Auch hier ist ein Umdenken eingeleitet. Es wird notwendig sein, derartige Einsätze auch mit einem gemeinsamen Finanzierungsmechanismus zu unterstützen. Damit reagieren wir auf die neue Bedrohungslage in Europa. Konsequenterweise haben sich die Verteidigungsbudgets in den meisten europäischen Mitgliedsstaaten deutlich erhöht. Und die Erkenntnis, dass mehr getan werden muss für die Sicherheit der Gemeinschaft, hat sich, glaube ich, doch sehr stark verfestigt.
Derzeit haben sogar die USA und Großbritannien große Probleme, ihre Arsenale – etwa an Boden Luft Raketen wieder zu befüllen. Das wird kleinere Streitkräfte von EU-Mitgliedsstaaten, noch einmal viel mehr treffen. Wo sehen Sie Potenzial für zumindest eine gemeinsame Rüstungsbeschaffung oder sogar Produktion?
Zunächst ist die Wiederauffüllung der entleerten Munitionsdepots und der entsprechenden Ausrüstungen und Gerätschaften, die abgegeben wurden, eine Frage der Kapazität. Die Rüstungsindustrie ist weder in den USA noch der EU auf Kriegswirtschaft eingestellt, sondern es muss hier erst langsam eine Erhöhung der Produktionskapazität herbeigeführt werden. Der Verbrauch in der Ukraine ist enorm. In der EU wird es darum gehen, dass man in Form von Rüstungskooperationen eine bestmögliche Aufgabenteilung findet. Größere Mitgliedsstaaten haben namhafte Rüstungsindustrien, die aber teilweise immer noch Konkurrenzprodukte herstellen. Das sollte überwunden werden. Als Beispiel aus der Vergangenheit nenne ich etwa den Eurofighter, wo sich vier Staaten die Aufgabe der Herstellung dieses Flugzeuges geteilt haben. Das wird auch künftig für andere Plattformen anzustreben sein. All das sind sehr schwierige Prozesse mit 27 Mitgliedsstaaten, aber man muss sie in Angriff nehmen, wenn wir militärtechnisch auf der Höhe bleiben wollen.
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