Außenpolitiker Teltschik: "Dialog mit Moskau ist unverzichtbar"
KURIER: Einmal mehr droht Wladimir Putin mit dem Einsatz von Atomwaffen – wie ernst ist diese Drohung Ihrer Ansicht nach zu nehmen?
Horst Teltschik: Es nimmt der Eindruck zu, dass Präsident Putin in immer stärkerem Maße irrationale Entscheidungen trifft. Daher würde ich nicht grundsätzlich ausschließen, dass er nukleare Waffensysteme einsetzt, zumal Russland in den letzten Jahren Systeme mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit und kleinen Sprengköpfen entwickelt hat. Man kann nur hoffen, dass das weltweite negative Echo eine abschreckende Wirkung auf den Kreml hat.
Von den atomaren Abrüstungsverträgen, die sich im Kalten Krieg und Jahrzehnte danach bewährt haben, ist nicht viel übrig – abgesehen vom New Start Vertrag. Wie können hier neue Fortschritte erzielt werden, und wie kann man etwa China einbinden?
China ist inzwischen eine ernst zu nehmende Nuklearmacht, hat durch seine Entscheidung, Weltraumwaffen zu entwickeln, ein neues, gefährliches Wettrüsten eröffnet. Es gibt aber einen Hoffnungsfunken: China hat öffentlich keine eindeutige Unterstützung für Putin zugesagt. Ich hielte es für richtig, China um Unterstützung zu bitten, dass Putin diesen Krieg beendet.
Haben sich die Abrüstungsverträge überlebt?
Das Problem hat damit begonnen, dass Präsident Trump den INF-Vertrag (Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen, Anm.) aufgekündigt hat. Das hat – und das ist fast schon eine Gesetzmäßigkeit – dazu geführt, dass Russland neue Systeme entwickelt hat. Die Frage ist nun, wie wir Verhandlungen wieder in Gang bringen können. Solange der Konflikt in der Ukraine andauert, ist das außerordentlich schwierig. Die Glaubwürdigkeit Russlands als Partner ist nicht gegeben.
Sie haben die Außenpolitik des deutschen Kanzlers Helmut Kohl wesentlich mitgestaltet. Als er 1982 Kanzler wurde, ahnte niemand, dass der Kalte Krieg binnen eines Jahrzehnts enden würde. Was war das Erfolgsrezept?
Das Erfolgsrezept von Bundeskanzler Helmut Kohl war, trotz der Drohungen der Sowjetunion – etwa durch Generalsekretär Andropow, der dem Westen mit einem Dritten Weltkrieg gedroht hat, wenn die USA Mittelstreckenraketen in Europa aufstellen –, das Gespräch zu suchen. Er hat ihm einen Brief geschrieben, in dem er die Absicht geäußert hat, die Beziehungen zur Sowjetunion positiv zu entwickeln. Neun Monate später ist er nach Moskau gereist, um mit Andropow die Gesamtbreite der Beziehungen zu besprechen. Später kam Gorbatschow, der anfangs nicht signalisierte, die Politik zu ändern, so wie er es später gemacht hat und ebenfalls hart in puncto Mittelstreckenraketen war. Was ich damit sagen will: Dialog ist unverzichtbar – wer auch immer im Kreml sitzt. Wir können uns die Partner nicht aussuchen. Das gilt auch für China. Die USA haben noch mit Mao Zedong, der für 40 Millionen Tote verantwortlich war, Gespräche aufgenommen.
Zurück zur Ukraine: Sie sagen, Europa, die USA, die NATO hätten wichtige Chancen verpasst, stärker auf Russland zuzugehen. Wo wären diese Chancen gelegen?
Mir hat Ex-Präsident Bill Clinton vor längerer Zeit in Wien erzählt, dass er (dem damaligen russischen Präsidenten; Anm.) Boris Jelzin vorgeschlagen habe, Mitglied der NATO zu werden, und zwar mündlich wie schriftlich. Die Antwort von Jelzin war, es sei für die Sowjetunion noch zu früh. Doch es gab viele Initiativen: Denken Sie an die Pariser Charta für ein neues Europa, die im November 1990 von 34 Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wurde. Alle Staaten, einschließlich der Sowjetunion, haben gesamteuropäische Ziele definiert. Sie haben sich festgelegt, diese Ziele nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu verfolgen. Aber wir haben diese Vereinbarungen, wie etwa Überprüfungskonferenzen auf Staats- und Regierungschef-Ebene, nicht weiterverfolgt. Wir haben den NATO-Russland-Rat gegründet. Diesen hat der NATO-Generalsekretär wenn, zumeist nur auf Botschafterebene einberufen. Als Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesprochen hat, hat Angela Merkel in ihrer Rede vor ihm erklärt, man müsse die Beziehungen zwischen NATO und Russland weiterentwickeln. Keiner hat weder sie noch Putin gefragt, was sie darunter versteht und was die nächsten Schritte sein sollen. Wir haben – zusammengefasst – die Vereinbarungen, die wir erreicht haben, nicht ausreichend genutzt.
Legitimiert all das den Angriff auf die Ukraine?
Nichts rechtfertigt diesen Angriffskrieg. Aber es gab ja ein Abkommen auf Initiative von Bundeskanzlerin Merkel, die damals ihren französischen Kollegen, Präsident Hollande, am Händchen genommen und sich mit Putin und dem ukrainischen Präsidenten in Minsk zusammengesetzt hat. So entstand das Minsker Abkommen, das aber nur in einem Punkt realisiert worden ist, nämlich dem eines Gefangenenaustausches. Aber ansonsten, was die zwei Provinzen Donbass betrifft, hat auch die Ukraine ihre Verpflichtungen nicht eingehalten. Da ist auch einiges auf ukrainischer Seite versäumt worden.
Wer könnte heute noch mit Putin reden?
Zuletzt hat Bundeskanzler Scholz mit ihm telefoniert. Ich halte von Telefonaten wenig, meine Erfahrung war, dass in solchen Situationen persönliche Gespräche vorteilhaft sind. Ich könnte mir vorstellen, dass der deutsche Kanzler mit dem französischen Präsidenten ein Gespräch mit Putin führen sollte – und dabei den chinesischen Präsidenten Xi Jinping einbezieht. Man hätte auch Schröder vertraulich ansprechen können. Dasselbe könnte ich mir auch in Bezug auf Angela Merkel vorstellen.
Horst Teltschik (82) war zwischen 1972 und 1990 wichtigster außenpolitischer Berater Helmut Kohls und nahm als Leiter der außenpolitischen Abteilung im deutschen Kanzleramt u.a. an den Verhandlungen mit Michail Gorbatschow zur deutschen Einheit teil. Von 1999 bis 2008 führte er die Münchner Sicherheitskonferenz und pflegte regen Kontakt zur
Elite der Weltpolitik
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