Nach ukrainischer Offensive: Zwischen Rückzug und Atomschlag
Es begann mit einem Vorstoß von etwa 15 Panzern und endete (vorerst) mit dem größten militärischen Erfolg der ukrainischen Streitkräfte seit der erfolgreichen Verteidigung Kiews. Innerhalb kürzester Zeit konnten sie die völlig überraschten russischen Einheiten aus strategisch wichtigen Städten vertreiben, indem sie diese einzukesseln drohten. Tausende russische Soldaten mussten etwa am Samstag die strategisch wichtige Stadt Isjum räumen, ehe sie von den Ukrainern umzingelt worden wären.
Wechselnde Ziele
Während man im Kreml von einer „strategischen Truppenumgruppierung“ sprach, wurde selbst unter einflussreichen Befürwortern des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Kritik an der Führung laut. Kritik, die nach außen hin auf taube Ohren stößt: „Wir setzen unsere Spezialoperation fort, bis die anfangs gesetzten Ziele erreicht sind“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag. Die „anfangs gesetzten Ziele“ sind viele: War es erst unter anderem die Eroberung Kiews und die Einsetzung einer kremltreuen Marionettenregierung, verlegte man sich später auf einen Korridor von Lugansk bis Transnistrien, um die Ukraine vom Meerzugang abzuschneiden, und später auf die Eroberung der beiden Oblaste Lugansk und Donezk.
Nachschub-Probleme
Selbst das letzte Ziel dürfte nach dieser überraschend erfolgreichen Offensive der ukrainischen Streitkräfte schwieriger zu erfüllen sein – aus folgenden Gründen: Isjum ist ein bedeutender Eisenbahnknotenpunkt für Nachschub aus Russland. Die Route führt auch an der Stadt Kupjansk – auch diese nahmen die Ukrainer am Samstag ein – vorbei und kann bereits dort von den ukrainischen Streitkräften unter Feuer genommen werden. Nachschub von Waffen, Munition, Verpflegung, militärischer Versorgung wird also auf anderem Wege erfolgen müssen – es wird länger dauern und weniger werden. Der Verlust Isjums nimmt gleichzeitig den Druck auf die Stadt Kramatorsk, die im Oblast Donezk liegt und damit im Hauptaugenmerk der russischen Angreifer.
Seit Monaten versuchen russische Truppen, kleinere Städte in der Umgebung einzunehmen – bisher scheiterten sie. Mit dem Verlust Isjums können sie von Norden nicht mehr angreifen. Etwas weiter südlich, im Raum der Stadt Donezk, haben die russischen Truppen einen von drei Verteidigungsringen durchbrochen, kamen allerdings nur langsam voran. Ob sie dort trotz schlechterer Versorgung Erfolge erzielen können, kann bezweifelt werden. Eher sieht es danach aus, als würden sich die ukrainischen Truppen in Richtung Oblast Lugansk aufmachen und versuchen, Städte wie Lyssytschansk und Sjewjerodonezk zurückzuerobern.
Im Inneren des Kremls dürfte es brodeln: Ein Verlust der Gebiete im Raum Charkiw kann schwerlich einkalkuliert gewesen sein, wollte man Kramatorsk einnehmen. Die russische Militärführung muss nun reagieren, bisher hat sie das lediglich mit dem Bombardement von ukrainischen Kraftwerken getan – massive Stromausfälle waren die Folge. Damit setzt Russland fort, was es seit Beginn des Krieges immer getan hat, galt es eine militärische Niederlage hinzunehmen: Angriffe auf zivile Gebäude und zivile Infrastruktur.
Wie schnell und überraschend sich die Situation auf dem Schlachtfeld ändern kann, hat die erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Truppen gezeigt. Auch wenn sie sich auf detaillierte Luftaufklärung und US-amerikanische Hilfe stützen konnten – die wenigsten Militäranalysten rechneten mit einem solchen Erfolg.
Putins Möglichkeiten
Genauso schnell kann es auch von russischer Seite passieren. Im Augenblick liegt die Initiative allerdings aufseiten der Ukrainer, während die russischen Rufe nach einer Generalmobilmachung lauter werden. Sollte Wladimir Putin sich dazu entscheiden, den Kriegszustand auszurufen, würde er damit eingestehen, dass er einen Krieg gegen die Ukraine führt und dass dieser nicht so verläuft, wie geplant.
Gleichzeitig herrscht die Angst vor einem Einsatz russischer, taktischer Atomwaffen in der Ukraine. Würde Putin zu dieser Maßnahme greifen, wäre es einerseits eine militärische Bankrotterklärung, andererseits dürfte ein taktischer Atomschlag Konsequenzen herbeiführen, die derzeit nicht abschätzbar sind.
Bis dato berichten prorussische Kanäle hauptsächlich von neu ausgebildeten Bataillonen, die bald auf dem Weg in die Ukraine sein sollen. Und von der „Gefahr einer weiteren ukrainischen Offensive“, die das Ziel, einen Keil in den Verbindungsweg Donezk-Cherson zu treiben.
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