Ukraine in der Offensive: Ist das der Wendepunkt?

Es ist die Frage der Stunde, über die Shepard Smith, der Anchorman-Haudegen aus Amerika, da gerade berichtet. Es geht um die Offensive der ukrainischen Armee, die dieser in den vergangenen Tagen besonders im Osten überraschende Gebietsgewinne eingebracht hat. Und auch im Süden gibt es - trotz starker Verluste - endlich Fortschritte. 2.000 Quadratkilometer sollen es laut Präsident Selenskij bereits sein.
Wie weit die ukrainischen Truppen tatsächlich vorgedrungen sind, mag schwer zu verifizieren sein. Dass nun aber selbst das russische Staatsfernsehen über die jüngsten Entwicklungen berichtet, sorgt dann doch für einen Anflug von Genugtuung in Smiths News-Pokerface. "Die sagen sonst nie etwas, das insinuieren würde, dass Russland die 'militärische Spezialoperation' nicht gewinnt."
Aber ist das wirklich so? Stellen die überraschenden Erfolge in der Offensive der Ukraine, die unter Kommentatoren wie Smith und in sozialen Medien fast euphorisch aufgenommen wurden, so etwas wie einen Wendepunkt im Krieg in der Ukraine dar?
"Substanzieller Sieg"
"Der Fakt, dass sie unsere Verteidigungslinie durchbrochen haben, ist natürlich ein substanzieller Sieg für sie", lautet die Antwort eines russischen Armeeangehörigen im staatlichen Fernsehen - und so eine offene Antwort die "militärische Spezialoperation" in der Ukraine betreffend, ist tatsächlich neu.
Offiziell spricht das russische Verteidigungsministerium zwar noch immer von einer "Umgruppierung" der Truppen im Norden. Berichte von Bloggern zeigen, dass es sich dabei jedoch weniger um eine Neuordnung, als um einen regelrechten Kollaps handelt.
Besonders der Verlust von Izjum könnte für die Russen zu einem echten Problem werden, befindet sich dort doch ein großer Eisenbahnknotenpunkt, den die russischen Streitkräfte benötigen, um Nachschub an Munition, Waffen, Verpflegung vom Norden an ihre Front im Donbass heranzuführen.
Die ukrainische Offensive im Raum Charkiw ist seit Dienstag im Gange - und die haben so nur wenige Militäranalysten für möglich gehalten. Nach schwierigem Beginn konnte die Ukraine am Freitag und Samstag teils binnen Stunden mit riesigen Geländegewinnen überraschen. Mit schnellen Panzervorstößen schafften es die ukrainischen Streitkräfte, die russischen Soldaten zu überrumpeln, beinahe einzukesseln und so in die Flucht zu schlagen.
Insgesamt haben die Ukrainer damit in wenigen Tagen mehr Gelände gutgemacht als die Russen in Monaten ihrer Donbass-Offensive.
Beobachter wie Carlo Masala, Militärexperte und Politikprofessor von der Universität der Bundeswehr in München, warnen aber vor verfrühter Freude. "Die Ukrainer sind jetzt in der Lage, das Schlachtfeld zu formen", sagte Masala im deutschen Nachrichtenmagazin Stern. "Sie haben die Initiative - und das ist eine deutliche Veränderung zu den vergangenen Monaten." Zudem müsse man feststellen, dass die Verteidigung der Russen in den meisten Frontabschnitten relativ schwach sei, das sei aber wohl weniger auf die ukrainische Überlegenheit in Sachen Kriegsmaterial zurückzuführen.
Baldiger Kollaps der russischen Armee?
Die Ukraine habe wohl die Initiative übernommen, taktisch wie operativ, befindet auch der australische General außer Dienst, Mick Ryan, auf Twitter. Der Krieg sei zwar noch lange nicht vorbei, "aber vielleicht wendet sich das Blatt jetzt endlich". Wie der Spiegel berichtet, schloss der britische Militärhistoriker Lawrence Freedman selbst einen baldigen Kollaps der russischen Kriegsmaschine nicht aus.
Carlo Masala ist da vorsichtiger. Noch handle es sich um begrenzte Vorstöße. Die Gebietsgewinne der letzten Tage entsprechen in etwa der Hälfte des Burgenlands. Zudem sei noch nicht klar, wie nachhaltig diese seien. "Also es geht auch um die Frage, ob ich diese Gebietsgewinne wieder verteidigt bekomme, sollten sich die Russen neu formieren und zurückschlagen", sagt Masala im Stern-Podcast zur Ukraine. Für eine Einschätzung dieser Frage sei es aktuell aber noch zu früh. Dass die russischen Stellungen so schnell zurückgedrängt werden konnten, deute aber auf "gewaltige Probleme innerhalb der russischen Armee hin".
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