Gegenoffensive der Ukraine: Erfolge auch in Cherson
Tag 201 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Der Vormarsch der ukrainischen Armee im Nordosten des Landes geht nach Angaben aus Kiew weiter. "Die Befreiung von Ortschaften unter russischer Besatzung in den Gebieten Charkiw und Donezk setzt sich fort", teilte der ukrainische Generalstab am Montag mit. Insgesamt seien mehr als 20 Ortschaften innerhalb der letzten 24 Stunden zurückerobert worden.
Auch aus dem Süden der Ukraine meldete das Militär Erfolge. Nach eigenen Angaben eroberte die ukrainische Armee dort rund 500 Quadratkilometer zurück, darunter fünf Siedlungen in der Region Cherson.
Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven hatte Russlands Verteidigungsministerium am Wochenende mehr als ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn den Abzug eigener Truppen aus der Region Charkiw bekannt gegeben. Offiziell begründet wurde der Rückzug mit einer strategischen "Umgruppierung" der Einheiten.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij hatte bereits am Abend auch die Einnahme der früher umkämpften strategisch wichtigen Stadt Isjum verkündet. Aus der Kleinstadt 140 Kilometer südöstlich von Charkiw tauchten Videos mit ukrainischen Soldaten auf, die dort die Landesflagge hissten.
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs haben russische Truppen auch die Kleinstadt Swatowe im Gebiet Luhansk verlassen. Dort seien nur noch die Milizen der Separatisten im Einsatz, heißt es im Lagebericht. Unabhängig lassen sich diese Angaben nicht überprüfen.
Russen müssen sich auf Abwehr konzentrieren
Die russischen Truppen müssen sich nach Einschätzung britischer Experten nun größtenteils auf die Abwehr der ukrainischen Gegenoffensive konzentrieren. Das geht aus dem täglichen Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums in London am Montag hervor. Die raschen Erfolge der ukrainischen Verteidiger hätten "erhebliche Folgen" für die allgemeine Einsatzplanung der Russen.
"Das bereits eingeschränkte Vertrauen, das die eingesetzten Truppen in die russische Militärführung haben, dürfte wahrscheinlich weiter schwinden", hieß es in der Mitteilung auf Twitter. Nach dem Rückzug der Russen aus dem gesamten Gebiet Charkiw westlich des Flusses Oskil seien dort nur noch einzelne "Nester des Widerstands" übrig, so die Einschätzung der Briten. "Seit Mittwoch hat die Ukraine ein Gebiet von mindestens der doppelten Größe des Großraums Londons zurückerobert."
Im Süden, nahe Cherson, habe Russland Schwierigkeiten, genügend Nachschub über den Fluss Dnipro an die Front zu bringen. Eine improvisierte schwimmende Brücke, mit deren Bau vor zwei Wochen begonnen wurde, sei noch immer unvollendet.
"Die ukrainische Langstrecken-Artillerie trifft jetzt vermutlich Übergänge des Dnipro so häufig, dass Russland keine Reparaturen an den Straßenbrücken vornehmen kann", so die Mitteilung weiter.
Der ukrainische Präsident Selenskij hat sich angesichts des mittlerweile seit 200 Tagen andauernden Kriegs bei seinen Landsleuten für die Verteidigung der Heimat bedankt. "In diesen 200 Tagen haben wir viel erreicht, aber das Wichtigste und damit das Schwierigste liegt noch vor uns", sagte Selenskij in seiner Videoansprache in der Nacht zum Montag.
Er bedankte sich unter anderem bei den ukrainischen Bodentruppen, der Luftwaffe, den Seestreitkräften - und bei allen, die in diesen Tagen "die Geschichte der Unabhängigkeit, die Geschichte des Sieges, die Geschichte der Ukraine" schrieben.
Osten: Russische Armee kündigte Abzug an
Die russische Armee hatte am Samstag überraschend den Abzug ihrer Truppen aus Gebieten im Osten der Ukraine angekündigt, darunter die Gebiete um Balaklija und Isjum. Nach russischer Darstellung werden die Truppen weiter südlich verlegt, um die russischen Streitkräfte in der Region Donezk zu verstärken. Militärexperten sehen eine Rückeroberung von Isjum durch die Ukraine als einen schweren Rückschlag für die russische Armee im Osten der Ukraine.
Die Ukraine hatte in den vergangenen Tagen die Rückeroberung von mindestens 30 Ortschaften in der östlichen Region Charkiw gemeldet. Demnach gelang es den ukrainischen Streitkräften unter anderem, die für den Nachschub der russischen Truppen wichtige und schon zu Beginn des russischen Angriffskriegs besetzte ostukrainische Stadt Kupjansk zurückzuerobern.
Auf vom ukrainischen Militär veröffentlichten Bildern waren Kisten mit von russischen Truppen zurückgelassener Munition sowie verlassene Militärfahrzeuge zu sehen.
Großflächige Stromausfälle im Osten als Racheakt?
In weiten Teilen der Ostukraine ist am Sonntagabend der Strom ausgefallen. Die ukrainischen Behörden machten Russland verantwortlich. Der Gouverneur der Region Charkiw erklärte, russische Angriffe auf "wichtige Infrastruktur" hätten die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen. Der Gouverneur der Region Dnipropetrowsk warf den russischen Truppen vor, "Energie-Infrastruktur" angegriffen zu haben, um sich für ihre "Niederlage auf dem Schlachtfeld" zu rächen.
Visa-Erleichterungen für Russen ausgesetzt
Indes profitieren russische Bürger ab sofort nicht mehr von einer erleichterten Visa-Vergabe für Reisen in Staaten des Schengen-Raums. Das zwischen der EU und Russland geschlossene Abkommen zur Erleichterung der Visa-Vergabe ist nach einem Beschluss der EU-Staaten von vergangener Woche für russische Staatsbürger nun komplett ausgesetzt.
Kommentare