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Scheinreferenden und Teilmobilmachung: Was Putin jetzt vorhat
Angesichts schwerer Niederlagen im Krieg gegen die Ukraine setzt Russland auf weitere Eskalation.
In vier besetzten ukrainischen Regionen, Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja, lĂ€sst Russland in demokratisch nicht legitimierten Scheinreferenden die Menschen ĂŒber einen Beitritt zu Russland abstimmen. Die Abstimmung, die vom 23. bis 27. September laufen soll, wurde erst diese Woche angekĂŒndigt. Moskau will sich mit Hilfe des Ergebnisses die Gebiete einverleiben. Weder die Ukraine noch die internationale Gemeinschaft werden die Abstimmung unter der Besatzungsmacht Russland anerkennen.
Gleichzeitig will Russland insgesamt 300.000 Reservisten in die Ukraine schicken - rund doppelt so viele, wie SchĂ€tzungen zufolge dort bislang bereits kĂ€mpften. Sie sollen den Wendepunkt bringen in dem bereits seit sieben Monaten andauernden Krieg, der fĂŒr Russland alles andere als erfolgreich lĂ€uft. Durchgesetzt werden soll so unter anderem eine geplante groĂflĂ€chige Annexion ukrainischer Gebiete.
Doch ist das realistisch? Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Welche Rolle spielen geplante Annexionen ukrainischer Gebiete?
Ab Freitag wollen die Besatzer in den östlichen Gebieten Luhansk und Donezk sowie in Cherson und Saporischschja im SĂŒden völkerrechtswidrige Abstimmungen ĂŒber den Anschluss an Russland durchsetzen. Es handelt sich um Scheinreferenden, weil sie ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Mit den vier Gebieten droht sich Moskau eine FlĂ€che von ĂŒber 108.000 Quadratkilometern einzuverleiben.
Auf Ă€hnliche Weise annektierte Russland bereits 2014 die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Wie schon damals ist eine internationale Anerkennung auch diesmal nicht in Sicht. Dennoch wĂŒrde der Kreml Angriffe auf Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja kĂŒnftig als Angriffe auf eigenes Staatsgebiet werten. Und Putin droht: âWenn die territoriale IntegritĂ€t unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volkes unbedingt alle zur VerfĂŒgung stehenden Mittel nutzen.â Also auch Atomwaffen.
Wie begrĂŒndet Putin die Annexion?
Putin begrĂŒndet dies mit dem angeblichen Schutz der dortigen Zivilbevölkerung vor ukrainischen Angriffen. Zweieinhalb Millionen Menschen hĂ€tten wegen der KĂ€mpfe fliehen mĂŒssen. âDiejenigen, die geblieben sind - etwa fĂŒnf Millionen Menschen - sind nun stĂ€ndigen Artillerie- und Raketenangriffen von neonazistischen KĂ€mpfern ausgesetzt. Sie greifen KrankenhĂ€user und Schulen an und verĂŒben TerroranschlĂ€ge gegen Zivilistenâ, behauptete Putin in seiner Mobilmachungsrede.
Was bedeutet die Teilmobilmachung konkret?
Der Erlass zwingt Russen zur Kriegsteilnahme, die bislang - zumindest theoretisch - freiwillig war. Eingezogen werden sollen 300.000 Reservisten, und zwar ab sofort. Laut Angaben des Verteidigungsministeriums sind ehemalige Wehrpflichtige sowie Zeitsoldaten mit Mannschaftsdienstgrad im Alter bis 35 Jahre und Reserveoffiziere der unteren Dienstgrade bis 45 Jahre betroffen. In erster Linie sollen demnach MÀnner mit Kampferfahrung und einer militÀrischen Spezialausbildung in den Krieg geschickt werden.
Wie soll die Teilmobilmachung durchgesetzt werden?
Russlands Gouverneure wurden direkt angewiesen, die Einberufung von Soldaten in ihren Regionen zu organisieren. Zur Durchsetzung der Mobilmachung hat Putin zudem gerade erst mehrere Gesetze verschÀrfen lassen.
So werden Fahnenflucht und der âfreiwilligeâ Eintritt in die Kriegsgefangenschaft nun hart bestraft.
AuĂerdem dĂŒrfen wehrpflichtige Russen nach Putins Befehl zur Teilmobilmachung ihren Wohnort laut Gesetz nicht mehr verlassen. Aus der Staatsduma hingegen hieĂ es, innerhalb Russlands könnten die Menschen trotzdem weiterhin ungestört reisen, Auslandsreisen seien nun aber nicht mehr zu empfehlen.
Was bezweckt Putin mit der Einziehung von Reservisten?
Noch immer ist in Moskau offiziell nur die Rede von einer âmilitĂ€rischen Spezial-Operationâ in der Ukraine - und sie hat dem Kreml wohl bisher nicht annĂ€herend das erhoffte Ergebnis gebracht. Nach sieben Monaten Krieg hat Russland zwar im Osten und im SĂŒden der Ukraine gröĂere Gebiete erobert, musste zuletzt aber auch eine herbe Schlappe hinnehmen: Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven zogen sich russische Truppen fast komplett aus dem nördlichen Gebiet Charkiw zurĂŒck. Auch in anderen Regionen droht den russischen Besatzern die Kontrolle zu entgleiten.
Zudem sind die Verluste laut unabhĂ€ngigen Beobachtern deutlich höher als die von Verteidigungsminister Sergej Schoigu eingerĂ€umte Zahl von knapp 6.000 toten russischen Soldaten. Westliche Geheimdienste gehen von etwa einer zehnmal höheren Totenzahl aus. Vor diesem Hintergrund hofft Putin wohl, mit den nun mobilisierten Reservisten eine Wende auf dem Schlachtfeld herbeifĂŒhren zu können. Und er dĂŒrfte auch darauf spekulieren, dass seine jĂŒngsten DrohgebĂ€rden die Ukraine und deren westliche UnterstĂŒtzer einschĂŒchtern.
Wie realistisch sind Putins PlÀne?
Laut Prognosen internationaler MilitĂ€rexperten dĂŒrfte Russland lĂ€nger brauchen als erwartet und nur VerbĂ€nde mit zweifelhafter Kampfkraft aufstellen können.
Der US-MilitĂ€rexperte Rob Lee meint auf Twitter, dass auf russischer Seite dann immer mehr Soldaten am Kampf beteiligt seien, die dort nicht sein wollten. Sein Fazit: âZwischen ukrainischen und russischen VerbĂ€nden wird der Unterschied in der Moral und dem Zusammenhalt der Truppe immer gröĂer.â
Was bedeuten die Entwicklungen fĂŒr die ukrainischen Gegenoffensiven?
In Kiew wurde die AnkĂŒndigung aus Moskau betont gelassen zur Kenntnis genommen. Der externe Berater des ukrainischen PrĂ€sidentenbĂŒros, Mychajlo Podoljak, fragte auf Twitter: âLĂ€uft immer noch alles nach Plan oder doch nicht?â PrĂ€sident Wolodymyr Selenskij hatte bereits davor betont, die Ukraine lasse sich nicht einschĂŒchtern. Zudem dĂŒrften in den kommenden Monaten auch auf ukrainischer Seite frische KrĂ€fte eintreffen. So lĂ€uft etwa die Ausbildung ukrainischer Soldaten in GroĂbritannien und anderen westlichen Staaten.
Wie verhÀlt sich der Westen?
Hochrangige Politiker aus dem Westen werten Putins AnkĂŒndigung als âZeichen der SchwĂ€cheâ und als âAkt der Verzweiflungâ wegen der jĂŒngsten militĂ€rischen Misserfolge Russlands. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz sagte, Putin habe die Situation von Anfang an âkomplett unterschĂ€tztâ.
Offen ist aber, wie westliche Staaten abseits von Worten mit der neuen Eskalation umgehen - insbesondere mit Putins Drohung, notfalls auch Atomwaffen einzusetzen. Bislang wurden weitreichende Sanktionen gegen Russland verhÀngt und die Ukraine mit Waffen und Munition versorgt. Ein direktes militÀrisches Eingreifen des Westens gilt aber als ausgeschlossen.
Wie reagieren die Russen auf die Teilmobilmachung?
Seit Kriegsbeginn haben viele Russen Angst vor einem solchen Schritt des Kremls gehabt. UnabhĂ€ngige Organisationen richteten am Mittwoch direkt Beratungs-Hotlines fĂŒr MĂ€nner ein, die einen Einberufungsbescheid erhalten. Viele FlĂŒge in aus Russland noch erreichbare LĂ€nder waren ausgebucht. In mehreren StĂ€dten gab es Proteste, mehr als 1.000 Menschen wurden festgenommen.
Landesweite Unruhen sind aber nicht zu erwarten. Zum einen hat der Kreml Repressionen gegen Kritiker zuletzt massiv ausgeweitet. Zudem haben Russlands Staatsmedien den BĂŒrgern monatelang eingeblĂ€ut, das Land werde von der Nato und dem âkollektiven Westenâ angegriffen - und die Verteidigung dagegen sei nun eine patriotische Pflicht.
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