Fünf Aspekte, wie der Ukraine-Krieg unsere Welt verändert hat
Vor einem halben Jahr hat der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine begonnen, am 24. Februar startete die russische Armee die Angriffe auf den souveränen Nachbarstaat. In den vergangenen sechs Monaten hat sich enorm viel getan - nicht nur im Kriegsgebiet selbst, sondern weltweit: Wirtschaftlich und geopolitisch.
Ein Überblick über die fünf größten globalen Veränderungen der letzten sechs Monate:
1. Erstmals wieder Krieg in Europa
Die Möglichkeit, dass auf europäischem Boden wieder ein ausgewachsener Krieg stattfinden könnte, galt für viele junge Menschen lange als ausgeschlossen. Eine ganze Generation, die nach dem Ende des Jugoslawien-Krieges geboren wurde, wuchs in Europa auf, ohne je einen bewaffneten Konflikt auf dem Kontinent erlebt zu haben. Dass eine militärische Großmacht jemals wieder an einem solchen beteiligt sein könnte, galt für die meisten als unvorstellbar.
Seit dem 24. Februar hat sich diese Wahrnehmung dramatisch geändert, die Berichterstattung über Krieg, Tod und Leid in der Ukraine ist allgegenwärtig. Die ersten Tage waren geprägt von Bildern russischer Soldaten, Panzer und Helikopter - es schien so, als wäre eine Eroberung der ukrainischen Hauptstadt Kiew nur eine Frage von Tagen angesichts der militärischen Überlegenheit Russlands.
Nach etwa einer Woche wurden erstmals Versorgungsschwierigkeiten der russischen Armee offensichtlich. Panzer blieben reihenweise stehen, weil ihnen der Sprit ausgegangen war. Etliche blutjunge, unerfahrene Soldaten desertierten, als klar wurde, dass sie unter falschen Versprechungen an die Front geschickt worden waren. Der erste russische Vorstoß kam zum Stillstand, aus einem vermeintlichen Blitzkrieg wurden monatelange Gefechte und Stellungskämpfe.
Heute hat die russische Armee innerhalb eines halben Jahres weite Teile des Ostens und Südens der Ukraine erobert, tut sich aber trotzdem deutlich schwerer bei der Eroberung des Nachbarstaats, als ursprünglich angenommen worden war.
Nach ukrainischen Angaben kamen bisher fast 9.000 ukrainische Soldaten ums Leben, nach Schätzungen des US-Verteidigungsministeriums wurden auf russischer Seite 70.000 bis 80.000 Menschen getötet oder verletzt. Rund 6,4 Millionen Menschen sind mittlerweile aus der Ukraine geflohen.
Doch die letzten sechs Monate zeigen auch, dass ein Krieg immer auch einen Kampf um Informationen beinhaltet. So können heutzutage kaum noch Angaben über den Kriegsverlauf unabhängig überprüft werden. Als Quellen dienen heute vor allem die Verteidigungsministerien der beiden Kriegsparteien.
Sicher ist, dass in diesem Jahr tausende ukrainische Zivilisten ihr Leben verloren haben. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft prüft fast 26.000 Fälle von Kriegsverbrechen, die von russischer Seite dementiert werden. Für etliche Angriffe auf Zivilisten, am deutlichsten etwa beim Massaker im Kiewer Vorort Butscha, gibt es aber klare Indizien, zum Beispiel Satellitenbilder.
2. Zusammenrücken des Westens
Auch auf weltpolitischer Ebene hat sich in den letzten sechs Monaten einiges getan. Bereits in den ersten Tagen nach Beginn der Invasion schienen die politischen Entscheidungsträger Europas und der Vereinigten Staaten so eng zusammen zu arbeiten wie lange nicht. In enger Abstimmung zwischen Washington und Brüssel wurden innerhalb kürzester Zeit Sanktionspakete auf den Weg gebracht, die Russland diplomatisch und wirtschaftlich isolieren sollen. Zumindest im Hinblick auf Beziehungen zu westlichen Staaten ist das gelungen.
So sind etwa alle russischen Banken heute vom Zugang zu westlichen Finanz- und Kapitalmärkten ausgeschlossen, die acht größten Banken haben keinen Zugang mehr auf das internationale Zahlungssystem SWIFT. Mit russischen Staatskonzernen dürfen westliche Firmen keine direkten Geschäfte mehr machen. Es traten Import- (Kohle, Holz, Zement, Alkohol) und Exportverbote (Kerosin, Eisen, Stahl, Luxusgüter) für den Handel mit Russland in Kraft. Sogar auf Embargos für russisches Gold und Erdöl konnten sich die 27 EU-Staaten einigen.
Gemeinsam haben Europa und die USA auch Waffen und militärischem Gerät in Milliardenhöhe in die Ukraine geliefert, weitere solche Lieferungen wurden bereits zugesichert. Mithilfe der westlichen Waffen verzeichnete die ukrainische Armee immer wieder überraschende Erfolge im Kampf gegen die russischen Invasoren, zuletzt etwa bei Bombardements russischer Stellungen auf der Halbinsel Krim.
Das klarste Anzeichen für das Zusammenrücken des Westens angesichts der Bedrohung durch Russland ist aber der bevorstehende Beitritt der jahrzehntelang neutralen Länder Finnland und Schweden zum Militärbündnis NATO. Abgesehen von deren militärischen Kapazitäten verändert vor allem der Beitritt Finnlands die geografische Situation nachhaltig: Mit einem Schlag verdoppelte sich somit die direkte Grenze zwischen NATO-Mitgliedsstaaten und Russland.
3. Globale Energie- und Nahrungsmittelkrise
Die wirtschaftlichen Folgen der sieben Sanktionspakete gegen Russland zeigten in den vergangenen Monaten auf, wie abhängig etliche europäische Staaten von russischen Energielieferungen, vor allem von Gasexporten, sind.
Im Zuge der zunehmend verschlechterten Beziehungen verringerte die russische Regierung den Gasfluss in die meisten europäischen Länder dramatisch, mit weitreichenden Folgen. Der Gaspreis stieg in ungeahnte Höhen, mit Folgen für die Stromproduktion und die Industrie mehrerer europäischer Staaten. Die Lebenserhaltungskosten werden vor allem im Winter massiv steigen, wenn mehr geheizt werden muss.
Vor allem in Österreich und Deutschland ist die Abhängigkeit von russischen Energieexporten enorm. Beide Staaten bemühen sich darum, die eigenen Gasspeicher bis zum Wintereinbruch zu füllen, die Bevölkerung wird zum Strom- und Gassparen aufgerufen. Ökonomen warnen vor allem in Deutschland bereits vor einer wahrscheinlichen Rezession der deutschen Wirtschaft im kommenden Jahr.
Doch auch im Rest der Welt sich die Folgen des Krieges wirtschaftlich spürbar, schließlich zählen Russland und die Ukraine zu den größten Weizenexporteuren der Welt. Vor allem die Lieferung von ukrainischem Weizen blieb lange unmöglich: Die russische Schwarzmeerflotte kontrolliert seit Kriegsbeginn die Gewässer vor den Küsten, die ukrainische Armee hat dagegen die noch unter ihrer Kontrolle befindlichen Häfen vermint.
Erst nach intensiver Vermittlungsarbeit der Vereinten Nationen unter Federführung der Türkei gelang es, Exportkorridore für ukrainisches Weizen zu ermöglichen. So ist die Exportmenge für Weizen im August Berichten zufolge erstmals wieder vergleichbar mit den Zahlen des Vorjahres. Besonders für die Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens ist das eine gute Nachricht, sie waren schließlich stets diejenigen Nationen, die am stärksten auf ukrainisches Weizen angewiesen waren.
4. Eine neue Weltordnung
Der Westen - allen voran Europa und die USA - sind zwar im Zuge des letzten Halbjahres enger zusammengerückt und haben sich von Russland abgewandt, doch gänzlich isoliert ist das Land damit auf der Weltbühne nicht. Immer noch gibt es eine Reihe von Nationen, die den Angriff auf die Ukraine öffentlich nicht kritisiert haben, manche haben dagegen sogar ausdrücklich die westlichen Sanktionen verdammt.
So pflegen etwa in Lateinamerika zahlreiche Staaten ein freundschaftliches Verhältnis zu Russland - allen voran Venezuela, Kuba und Nicaragua, wo nominell linke Präsidenten autokratisch regieren. Aber auch aus Brasilien war von Präsident Jair Bolsonaro zu hören, die Welt sollte sich in diesem Konflikt "neutral" gegenüber Russland verhalten.
Aber auch in Europa gibt es zwei, die regelmäßig mit schwammigen Aussagen gegenüber Russland auf sich aufmerksam machen: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán tut sich seit Monaten ebenso schwer mit einer klaren, nachhaltigen Kritik an Putin wie Serbiens Präsident Aleksandar Vučić.
Wirtschaftlich relevanter für Russland ist, dass sein Ruf bei den eigenen Nachbarstaaten in Asien nicht verdorben ist. So sprach Putin etwa regelmäßig davon, die infolge der Sanktionen ausfallenden Energieexporte nach Europa über Lieferungen in ehemalige Sowjet-Staaten sowie nach Indien und China abfangen zu wollen.
Gerade die Partnerschaft mit der Großmacht China floriert weiter. Das Handelsvolumen mit der Volksrepublik erhöhte sich in den vergangenen sechs Monaten massiv. Chinesische Politiker kritisierten Russland bis heute nicht für die Invasion, übernahmen gar den russischen Sprachgebrauch und nannten den Krieg in der Ukraine seither stets "Konflikt" oder "Spezialoperation".
Zwischen Peking und Moskau ist eine Achse entstanden, die sich als Bündnis zweier mächtiger Autokratien versteht, das die demokratische Weltordnung des Westens ins Wanken bringen will. Durch die zunehmende wirtschaftliche Überlegenheit Chinas wird Russland in diesem Verhältnis aber künftig zum Juniorpartner schrumpfen, gerade weil das Land vom Handel mit China abhängiger ist denn je.
5. Sorge um den nächsten großen Krieg
Der russische Angriff auf die Ukraine scheint im Westen auch die Aufmerksamkeit auf den nächsten möglichen großen Konflikt gerichtet zu haben: Eine chinesische Invasion auf der Insel Taiwan. Seit Jahren spricht Chinas Staatspräsident Xi Jinping davon, die Insel mit der Volksrepublik "wieder vereinen" zu wollen, erklärte das zuletzt sogar zum obersten Ziel seiner Herrschaft.
China beansprucht Taiwan als sein eigenes Territorium, obwohl man die Insel seit dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges 1949 nie kontrollierte. Seit drei Jahren werden Drohgebärden der chinesischen Armee immer häufiger, alleine 2021 verzeichnete die Regierung auf Taiwan mehr als 900 Verletzungen ihres Luftraums durch chinesische Kampfjets.
Vor allem in Washington scheint man diese Drohungen nun ernster zu nehmen als zuvor. Es scheint, als hätte Russlands Invasion in der Ukraine den US-Strategen gezeigt, dass Autokraten wie Xi oder Putin selbst vor dramatischen Folgen für das eigene Land nicht zurückschrecken, um ihre Versprechen in die Tat umzusetzen. Auch in Taiwan ist die Sorge vor einer chinesischen Invasion angesichts des Krieges in der Ukraine massiv gestiegen.
Die USA haben eigentlich seit 1979 ein Schutzversprechen gegenüber Taiwan unterzeichnet. Damit wären sie dazu verpflichtet, die Insel zu verteidigen, wenn sie "militärischer Aggression" ausgesetzt sein sollte. In der Vergangenheit wurde dieses Versprechen von US-Präsidenten aber meist nicht als zwingend ausgelegt - obwohl es den Rang eines Bundesgesetzes hat, ein Regierungschef sich mit einem Verstoß also in den USA strafbar machen würde.
Seit Joe Biden das Weiße Haus übernommen hat, änderte sich auch der Ton Washingtons in dieser Frage. "Wir haben uns dazu verpflichtet", antwortete Biden etwa bereits dreimal auf die Frage, ob die USA Taiwan im Falle einer chinesischen Invasion militärisch beistehen würden. Es scheint, als hätte die US-Regierung aus dem Krieg in der Ukraine die Lehre gezogen, Autokraten frühzeitig entschieden entgegenzutreten, um eine Eskalation zu verhindern.
Mit dem Besuch der US-Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi Anfang August erreichte der Konflikt seinen bisherigen Höhepunkt. Die chinesische Armee hielt anschließend eine Woche lang Militärübungen mit scharfer Munition in den Gewässern um die Insel ab. Doch seither sind bereits zwei weitere US-Delegationen in Taiwan gewesen.
Die wirtschaftlichen Folgen eines offenen Krieges um Taiwan würden jene des Ukraine-Krieges für Europa wohl bei weitem übertreffen.
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