Die Macht der Stärkeren - ist das die neue Weltordnung?
An den von Raketen getroffenen Gebäuden in der Ukraine zerbersten sie gerade – die Hoffnungen Europas, dass es auf dem Kontinent nie wieder Krieg geben möge. Russische Panzer rollen über die Grenzen. Granaten töten Menschen, die eben noch am Küchentisch saßen. Zutiefst verängstigte Frauen und Kinder bangen in Kellern und U-Bahnschächten um ihr Leben.
„Das ist ein Wendepunkt“, zeigte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach den ersten Kriegsmeldungen entsetzt, „Russland hat unsere gesamte Friedensordnung infrage gestellt.“
Anders als in der UNO vereinbart, wird nun wieder eine neue Grenze mit Gewalt gezogen. Die blutige Grenzverschiebung durch Russlands Präsidenten Wladimir Putin ist aber mehr als ein missachteter Bruch des Völkerrechts. Sie ist der Beweis, dass der Kremlherr die Weltordnung seit Ende des Kalten Krieges für obsolet hält.
Er ersetzt sie einfach durch das Recht des Stärkeren.
Ist das die Zukunft?
Haben sich internationale Kooperationen, Abrüstung und Recht überlebt? Zählen künftig wieder nur militärische Überlegenheit und rücksichtslose Machtpolitik?
Der Kreml werde den neuen Weg jedenfalls nicht vorgeben, meint der Politologe Heinz Gärtner: „Russland wird nicht die Maßstäbe dafür setzen, wie die Weltordnung künftig aussehen wird, ganz im Gegenteil“, sagt er. „Russland ist zu schwach, seine Wirtschaft hat nur in etwa die Größe von Spanien.“ Zudem hat die große Mehrheit der Staaten weltweit die Aggression Russlands verurteilt.
Die Warnleuchten habe man ja schon seit 2008 blinken sehen, meint der frühere Spitzendiplomat Stefan Lehne. Da marschierten russische Truppen in Georgien ein. 2014 holte sich Moskau die Krim und zettelte Kämpfe in der Ostukraine an.
„Wir haben Putin unterschätzt, dabei war er schon immer ein Kritiker des westlichen Politik-Konzeptes“, führt EU-Experte Lehne (Carnegie Europe) aus. Die eigenen Interessen, die eigenen Werte von Vaterland und starkem Staat und die eigenen Sicherheitsbedürfnisse setzte Putin selbstbewusst dem Westen entgegen.
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Marktwirtschaft? Diesen Weg sah der russische Präsident für sein Land nie vor.
Was er hingegen wollte, war, Russland wieder zu Bedeutung zu führen. Es sollte wieder mehr sein als bloßer Energielieferant für den Westen. Geachtet, respektiert, gefürchtet.
Allianz der Autokraten
Als noch gefährlicher als Putins Kriegszug erachtet Lehne auf lange Sicht aber etwas Anderes: „Das größere Problem für uns ist eine Art Allianz von autoritären Regimen, die einen großen Teil der Welt kontrolliert.“ Sprich: das Zweckbündnis zwischen Russland und China.
Beiden Staaten geht es darum, die internationale Ordnung zu ändern – als ein Gegenpol zum Westen. Und der Moment dafür scheint günstig: „Beide – Putin und Xi – betrachten den Westen als gespalten und schwach und im Niedergang“, sagt Jakub Jakobowski, China-Experte beim Institut Centre for Eastern Studies in Warschau. China, das sonst ständig das Prinzip der staatlichen Nicht-Einmischung predigt, distanziert sich nach Russlands Einmarsch in der Ukraine nur vorsichtig von Putin. In der UNO stimmte Pekings Botschafter Freitagnacht zwar nicht mit Russland, enthielt sich aber der Stimme. „Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, den wir nicht sehen wollen“, lautet Pekings Standpunkt.
Die USA zurückdrängen
Xi Jinping und Wladimir Putin eint die Feindschaft zu Washington: Russland will die USA aus Osteuropa zurückdrängen. China arbeitet darauf hin, die Amerikaner aus dem Westpazifik zu vertreiben.
Dabei beobachtet man in Peking mit großem Interesse: NATO und USA haben dem Angriff Russlands auf die Ukraine militärisch nichts entgegengesetzt. Ebenso könnte es im Fall Taiwans verlaufen. Die Wiedervereinigung mit der Insel „muss kommen, und sie wird kommen“, stellt Chinas Staatschef Xi kategorisch klar.
Ob die USA Taiwan verteidigen und damit einen großen Krieg mit China riskieren würden, ist mehr als unsicher. Zwar versichert Washington der bedrängten Insel militärische Hilfe, doch auch in den USA weiß man: Sich offen gegen China zu stellen, würde in den Dritten Weltkrieg führen. China ist entschlossen - und auch, notfalls alle nötige Gewalt einzusetzen.
Abermals hätte dann im Sinne einer neuen russisch-chinesischen Weltordnung der Stärkere gesiegt.
Und Europa?
Die Stärken
Rein wirtschaftlich gesehen ist die EU ein Riese: Sie erwirtschaftet mehr als ein Viertel des weltweiten BIPs und ist damit der größte Wirtschaftsblock der Erde. Auch im Handel ist die EU eine Großmacht. Sie ist nach China der zweitgrößte Exporteur und nach den USA der zweitgrößte Importeur der Welt.
Die Schwächen
Die „sanfte Macht“ EU hat keinerlei militärische Muskeln. Ihre Interessen kann sie nur auf Rechtswegen und mit Diplomatie durchsetzen – was nicht immer klappt.
Die Stärken
Als Atommacht spielt Russlands Armee auch nach dem Ende der Sowjetunion noch in der Liga der militärischen Großmächte. Einen zweiten Machthebel hat
der Kreml mit den enormen Gasreserven in der Hand. Russland ist das zweitgrößte Gasförderland der Welt – nach den USA.
Die Schwächen
Die Wirtschaftskraft des größten Flächenlandes entspricht nur jener Spaniens. Mit Putin wurde Russland zur Autokratie, Grundrechte werden extrem beschnitten.
Die Stärken
Wirtschaftlich und militärisch sind die USA weiter die größte Supermacht der Welt. Mit 778 Milliarden Dollar pro Jahr sind ihre Militärausgaben drei Mal so groß wie jene Chinas. Dank der Welt-Leitwährung Dollar können sie ihre Gegner finanziell strafen, mit Wirtschaftssanktionen Konkurrenten schaden.
Die Schwächen
Die USA verlieren ihren ökonomischen Vorsprung. Das De facto-Zweiparteiensystem spaltet das Land. Republikaner und Demokraten blockieren einander.
Die Stärken
China hat einen spektakulären wirtschaftlichen Aufstieg hingelegt. Nach den USA ist es die zweitgrößte Volkswirtschaft – und sehr erpicht diese zu überholen. Sein neues ökonomisches Gewicht nutzt Peking auch als politischen Machthebel. Auch militärisch hat China rasant nach- und hochgerüstet.
Die Schwächen
Chinas Energieabhängigkeit vom Ausland ist zu groß. Immer noch leben 700 Millionen Chinesen in Armut. Es herrscht Diktatur, jegliche Kritik wird unterdrückt.
Für die EU ist der Moment der Wahrheit gekommen. Auf ihre regelbasierte Ordnung ist die Union so stolz, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden hochgehalten und gefeiert. Aber: „Die Zeit der Friedensdividende ist endgültig vorbei“, meint Stefan Lehne. Langfristig gesehen werde die EU nicht darum herum kommen, ihre Verteidigungspolitik auszubauen. Angesichts politischer Erpressung oder Gewalt ist die „sanfte Macht EU“ hilflos. Sehr viel Geld wird für Europas Sicherheit nötig sein, vor allem aber der gemeinsame politische Wille.
Denn sich bei der Verteidigung nur auf die USA zu verlassen, kann auch schief gehen. 2024 könnte der nächste US-Präsident wieder Donald Trump heißen. Und der hatte schon in seiner ersten Amtszeit an allen internationalen Organisationen gesägt, an denen sich auch Europa anhält – von der UNO bis zur NATO. Das westliche Militärbündnis, hatte er zum Entsetzen Europas getwittert, „ist obsolet“.
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