Greift China an? Taiwan fürchtet ein Schicksal wie die Ukraine

Taiwans Armee probt den Ernstfall: Mit Amphibienfahrzeugen simulieren sie, wie China vom Meer aus angreifen könnte.
„Es gibt Tage, da frage ich mich: Warum wohnen wir eigentlich noch hier? Wir sollten in die Berge ziehen, da wären wir sicherer“, sagt Celyne. Die zierliche Frau Anfang vierzig lebt im Süden Taiwans, keine 200 Kilometer vom chinesischen Festland entfernt. Und doch liegen Welten zwischen der Lebensrealität an beiden Küsten.
Das autokratische China sieht das demokratische Taiwan als Teil seines Territoriums an, der lediglich von Abtrünnigen besetzt ist. Pläne zur Eroberung der Insel werden seit Jahrzehnten offen kommuniziert – in Peking spricht man stets von einer „Befreiung“. Wer in Taiwan lebt, wächst also mit ständigen chinesischen Drohgebärden auf.
Nationalisten-Fluchtort
Weil sie den chinesischen Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten verloren, flohen die Nationalisten um General Chang Kai-Shek 1949 auf die Insel Taiwan – und gründeten dort die „Republik China“. Heute sitzt die Nationalisten-Partei Kuomintang nur noch in der Opposition.
De-Facto-Staat
Nur noch 13 Staaten erkennen Taiwan offiziell an – vor fünf Jahren waren es noch 24. Auch Österreich tut es nicht. In der UNO, der WHO und unzähligen weiteren Organisationen fehlt Taiwan auf das Drängen der Volksrepublik China.
24 Mio. Einwohner
hat die Insel heute. Das Pro-Kopf-Einkommen ist eines der höchsten weltweit.
Viele nahmen sie deshalb nicht mehr ernst, obwohl sich beziffern lässt, wie stark die Provokationen in den letzten drei Jahren zunahmen: 961 Luftraumverletzungen durch chinesische Kampfjets meldete Taiwans Militär alleine 2021. 2018 waren es noch nicht einmal hundert gewesen.
Erst die russische Invasion in der Ukraine hat die Wahrnehmung vieler Inselbewohner verändert. „Wir fühlen uns in einer ähnlichen Situation, die Empathie gegenüber den Ukrainern ist groß“, sagt Celynes Mann Vincent. Auch ihre 20-jährige Tochter Chloe hat mit Gleichaltrigen bis zum 24. Februar „eigentlich nie“ darüber gesprochen, wie es wäre, wenn China angreifen würde. „Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass es heutzutage noch irgendwo zu so einem Krieg kommen könnte.“

Taiwans Präsidentin Tsai Ing-Wen nahm ebenfalls an den Militärübungen teil.
„Wir fühlen uns der Ukraine verbunden, denn auch unser Nachbar ist für uns eine große Bedrohung“, sagt die Diplomatin Katharine Chang zum KURIER. Sie leitet heute das Wirtschafts- und Kulturbüro der taiwanesischen Regierung in Wien. Zuvor stand sie in ihrer Heimat von 2016 bis 2018 dem Rat für Festlandangelegenheiten vor – einer Behörde im Ministeriumsrang, die ausschließlich für den Umgang mit China zuständig ist.
Ihrer Meinung nach ist die Ausgangslage Taiwans „natürlich nicht hundertprozentig mit jener der Ukraine vergleichbar“. Eine Insel einzunehmen, sei für den Angreifer schließlich deutlich komplizierter als über den Landweg. Zudem gebe es ein Schutzversprechen der USA im Falle eines chinesischen Angriffs – ein Pakt, über den die Ukraine nicht verfügte.
Würden die USA helfen?
Gemeint ist der sogenannte Taiwan Relations Act (TRA) – ein US-Bundesgesetz, das die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Taiwan seit 1979 vorgibt. Demnach erkennen die USA Taiwan zwar nicht als eigenständigen Staat an, verpflichten sich aber dazu, die Insel „vor jeglicher Form von Gewalt“ zu schützen. Lange rechtfertigte man damit Waffenexporte nach Taiwan in Milliardenhöhe.
Joe Biden beantwortete die Frage, ob die USA im Falle einer chinesischen Invasion eingreifen würden, im Herbst so deutlich wie kein Präsident vor ihm: „Dazu haben wir uns verpflichtet“. Ein Signal an Peking – auch wenn Bidens Stab das Statement anschließend in einer Aussendung relativierte.
Firma als Schutzschild
Halten sich die USA also eine Hintertür offen? „Jedes Land handelt außenpolitisch nach seinem eigenen, nationalen Interesse. So realistisch muss man sein“, sagt Chang. „Wir sind aber überzeugt, dass die USA und Taiwan in der Region dieselben Interessen haben.“
Die taiwanesische Journalistin Kwangyin Liu wird konkreter. Taiwans wichtigster Schatz sei das Unternehmen TSMC, das bei der Produktion von Halbleiter-Chips eine globale Führungsrolle einnimmt. „Manche Experten sprechen deshalb davon, dass TSMC unser ,Silicon Shield’ ist, weil das Unternehmen auch für die Amerikaner zu wichtig ist, um seine Gefährdung zuzulassen“, so Liu. Auch China würde von einem Angriff absehen, solange dort nicht Chips in gleichwertiger Qualität hergestellt werden könnten, so die These.
„Ich glaube deshalb, dass die Situation in nächster Zeit nicht eskalieren wird“, meint Liu. „Man muss aber vorsichtig sein, damit ein diplomatischer Zwischenfall China nicht zum Handeln zwingt.“

Ob im Computer, iPhone oder E-Auto: Die Chips der Taiwan Semiconductor Manufacturing Company, kurz TSMC, sind fast überall verbaut. Der weltgrößte Chip-Auftragsfertiger aus Hsinchu gilt als fortschrittlichster und derzeit expansivster Halbleiterhersteller der Welt. Mit einem Marktanteil von 55 Prozent in der Auftragsfertigung lässt der Konzern den südkoreanischen Rivalen Samsung weit hinter sich und gilt ob seiner globalen Vernetzung als systemrelevant für die Weltwirtschaft.
Sieben riesige Halbleiter-Fabriken betreibt TSMC in Hsinchu, 14 sind es in ganz Taiwan. Fast 57.000 Taiwaner sind im Konzern beschäftigt, der als Marktführer bei besonders kleinen und schnellen Chips auf Basis der sogenannten Fünf-Nanometer-Technologie gilt. Größter Abnehmer ist iPhone-Hersteller Apple.
USA statt China
Sogar mit China macht TSMC Geschäfte, das Festland war lange einer der größten Abnehmer. Seit dem Handelskrieg zwischen den USA und China steht das Geschäft dort aber mehr oder weniger still. An den chinesischen Telekom-Konzern Huawei werden seither keine Chips mehr geliefert.
Dafür expandiert TSMC in anderen Teilen der Welt massiv. Allein im kommenden Jahr will der Konzern 40 Mrd. Dollar in neue Fabriken stecken. Fest steht bereits, dass TSMC in der andauernden Chipkrise rund 12 Mrd. Dollar in neue Werke in den USA investiert und zusammen mit Sony in Japan eine Fabrik baut.
In Europa stehen die Taiwaner trotz des milliardenschweren Förderprogramms „European Chips Act“ auf der Bremse. Es gebe keine „konkreten Pläne“, sagte Chairman Mark Liu erst Ende Juni. Man bewerte die Lage.
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