Uigurin im Exil: "Die ganze Welt finanziert diese Verbrechen mit"

Uigurin im Exil: "Die ganze Welt finanziert diese Verbrechen mit"
Jewher Ilham ist Uigurin, Geflüchtete, Widerstandskämpferin: Ihr Vater, ein Regimekritiker, ist seit 2013 inhaftiert. Seither kämpft sie gegen die Versklavung ihres Volkes durch China.

Vor mehr als neun Jahren hat Jewher Ilham ihren Vater Ilham Tohti zum letzten Mal gesehen. Als Regimekritiker und bekannter Ökonom war er schon damals eines der öffentlichen Gesichter der muslimischen Minderheit der Uiguren. Am 2. Februar 2013 wurde er am Flughafen Peking verhaftet, als er mit Jewher gerade in die USA reisen wollte.

Sie  bestieg auf Drängen ihres Vaters das Flugzeug allein – und kam mit 18 Jahren  in den Vereinigten Staaten an, ohne große Englischkenntnisse.  Heute reist die 27-Jährige durch die Welt, hat zwei Bücher über ihre Flucht und die Suche nach ihrem Vater geschrieben und arbeitet als Aktivistin gegen  Zwangsarbeit. 

Ob ihr Vater  noch lebt, weiß Jewher nicht. Er sitzt  eine lebenslange Haftstrafe  in der Uiguren-Region Xinjiang ab. Mehr als eine Million Menschen  hält China dort laut UN in sogenannten „Umerziehungslagern“ gefangen, unterstellt ihnen  islamischen Extremismus und Nationalismus – ihnen eine Stimme zu geben, ist Jewher Ilhams Lebensaufgabe. 

Mit dem KURIER sprach Ilham über Unterdrückung, die Suche nach ihrem Vater und die Mitschuld des Westens.

Uigurin im Exil: "Die ganze Welt finanziert diese Verbrechen mit"

KURIER: Die Verfolgung der Uiguren ist im Westen erst seit 2018 präsent, als erstmals über die Umerziehungslager berichtet wurde. Seit wann erleben Sie  die Verfolgung durch das Regime?

Ilham: China unterdrückt unser Volk schon, seit es die Region erstmals besetzt hat.  Etwa ab 2014 wurde begonnen, härter gegen intellektuelle Uiguren vorzugehen. Das war nicht allzu lange, nachdem Präsident Xi Jinping die Region besucht hat – und nachdem mein Vater inhaftiert wurde. Etwa ab 2016 wurden Hunderte Schulen und Krankenhäuser in  Gefängnisse und „Umerziehungslager“ umgebaut. Da hat es begonnen, dass die Straßen leerer wurden.

Ihr Vater sitzt seit acht Jahren in Haft. Wissen Sie, wo – und wie es ihm geht?

Ich weiß nur, dass er 2017 noch in einem Gefängnis in der Uiguren-Hauptstadt Ürümqi saß, gemeinsam mit anderen prominenten politischen Gefangenen. Ich weiß nicht, ob er immer noch dort ist oder ob er überhaupt noch lebt. Aber ich hoffe es.

Es gibt Beweise für  mehr als 380 „Umerziehungslager“ in Xinjiang. Funktionieren die alle gleich?

Nein, es gibt unterschiedliche Arten von Gefängnissen. Es gibt die „Umerziehungslager“, wo die Gefangenen gezwungen werden, Mandarin zu lernen und den ganzen Tag lang kommunistischer Propaganda ausgesetzt sind. Wer sich fügt, wird vielleicht irgendwann entlassen, meist aber zu Zwangsarbeit in Fabriken verpflichtet. Wer sich weigert, wird härter gefoltert. Die meisten  überleben das nicht.

Vor zwei Wochen wurden erstmals Bilder aus „Umerziehungslagern“ öffentlich. Fühlen Sie sich dadurch in ihrem Kampf bestärkt?

Die Daten sind sehr wertvoll, das will ich nicht kleinreden. Aber wir hatten zuvor schon genug Beweise. Jetzt  kann hoffentlich niemand mehr leugnen, was in der Uiguren-Region vor sich geht. Dass es diese Lager gibt. Dass ein Völkermord stattfindet.

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Eines der vielen Bilder, die im Zuge der "Xinjiang Police Files" Ende Mai veröffentlicht wurden. Sie zeigen, wie Häftlinge geschlagen und gefoltert werden.

Wussten Sie vorab, dass  da etwas Neues kommen wird?

Ja, ich wurde vorab  informiert.  Ich hoffe, der Informant ist in Sicherheit. Egal ob in Tibet oder Hongkong, die Regierung hat sich immer an jenen gerächt, die sie in ein schlechtes Licht gerückt haben. Oder an ihren Familien.

Können Sie Ihre Familie in Xinjiang  kontaktieren?

Nicht direkt,  weil es für sie  sehr riskant ist.  Es gibt überall  Kontrollpunkte, wo man sein Handy abgeben muss. Die Polizei lädt alle Daten herunter und Überwachungssoftware hoch.

Wie erreichen Sie sie dann?

Die meisten Familien finden Mittel und Wege,  wir benutzen alle eine Art Code. Am Telefon spricht niemand offen über die „Umerziehungslager“, stattdessen sagt man Krankenhaus oder Schule. Dann heißt es: „Meine Tante und meine Cousins sind immer noch in der Schule“, auch wenn sie alle über 50 sind. Ich kenne keine einzige Familie, die nicht irgendeine Art von Code entwickelt hat. 

Millionen von Han-Chinesen, die größte und dominierende ethnische Gruppe Chinas,  werden mit finanziellen Anreizen   in die Region gelockt. Diese Taktik hat Peking schon  in Tibet eingesetzt.

Ja, so sollen die Uiguren in ihrer Heimat zur Minderheit werden. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt als in Tibet – darüber zu reden ist ein wenig ekelhaft: Uigurische Frauen wurden im Kernland seit Jahrzehnten als besonders schön und exotisch dargestellt. In Filmen war immer  von „den Schönheiten aus Xinjiang“ die Rede,  die Regierung warb bei Kampagnen  mit Slogans wie: „Hunderte Frauen warten darauf, dich zu heiraten“. Solche Hochzeiten  zwischen uigurischen Frauen und Han-Männern, die einander kaum kennen, finden dann auch relativ schnell statt.

Sie meinen Zwangsehen?

Natürlich, wenn auch nicht offiziell. Die meisten uigurischen Frauen sind gläubige Muslima, sie dürften also keine „Ungläubigen“ heiraten. Die Regierung  legt das so aus, dass jede Frau, die sich weigert, einen Han-Mann zu heiraten, eine religiöse Extremistin ist, die ins „Umerziehungslager“ gehört. Weil man  durch die   eigene Familie „extremistisch“ wird, gehört auch die bestraft – das ist die Logik des Regimes. Viele Frauen schützen  darum ihre Familien.

Uigurin im Exil: "Die ganze Welt finanziert diese Verbrechen mit"

Für den KURIER hat Fotografin Elena Zaucke die uigurische Aktivistin Jewher Ilham in Rom porträtiert.

Glauben Sie, dass die meisten Han-Chinesen wissen, was in Xinjiang passiert, bevor sie dorthin siedeln?

Ich glaube, viele Han-Siedler sind unschuldige Menschen, die verzweifelt  auf ein besseres Leben hoffen. Ich kenne aber auch Aussagen von ehemaligen Polizeibeamten, denen jahrelang erzählt wurde, alle Uiguren seien Extremisten und Kriminelle, die weniger wert wären als die Han. Und dass sie gefährlich für China  wären, ließe man sie unkontrolliert. Ich glaube, Menschen tendieren in solchen Lagen dazu, Lügen zu glauben, um ihr eigenes Tun zu rechtfertigen.

Viele Uiguren müssen  in anderen Teilen Chinas Zwangsarbeit verrichten. Wie kann man sich das vorstellen?

Zeugenaussagen von Geflüchteten zufolge arbeiten die Menschen dort mehr als zwölf Stunden pro Tag  unter ständiger Androhung von Gewalt. Manche von ihnen werden überhaupt nicht bezahlt, andere bekommen rund 300 Yuan pro Monat –  knapp 40 Euro. Davon kann niemand leben, China ist heute ja kein Entwicklungsland mehr. 

Diese Zwangsarbeiter stellen vor allem Produktbestandteile her, die Firmen weltweit nutzen. Von welchen Mengen sprechen wir da?

Von enormen. Rund ein Fünftel der weltweiten Baumwolle kommt aus China. Man schätzt, dass mindestens 84 Prozent davon in der Uiguren-Region hergestellt wird. Aber es geht nicht nur um die Textilindustrie: Ein Hauptbestandteil der meisten Solarzellen weltweit ist Polysilizium, fast die Hälfte davon kommt aus der Uiguren-Region. 

Was kann der Westen  tun, um dem ein Ende setzen?

China betreibt Hunderte Gefangenenlager in der Region, mit mehr als einer Million Häftlingen. Was glauben Sie, was das kostet? Nicht Millionen, nicht Milliarden, viel mehr als das! Hunderttausende Sicherheitsbeamte müssen bezahlt werden, dazu die Energiekosten. Aber die chinesische Regierung ist nicht dumm, ich halte sie für die gerissenste weltweit:  Sie macht nur Dinge, bei denen die  Kosten-Nutzen-Rechnung stimmt.
 
Die Zwangsarbeit bezahlt also die Gefangenenlager, sagen Sie  – wenn kein Abnehmer mehr da ist, endet also die Unterdrückung?

Ich bin überzeugt, dass die chinesische Regierung dieses System nicht mehr lange aufrechterhalten würde, wenn es ein Verlustgeschäft wäre. Aber das ist es derzeit nicht – weil das Regime  und die Unternehmen so massiv von den Zwangsarbeitern profitieren. Weil die ganze Welt diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitfinanziert. Wir brauchen in den  großen Industrienationen Gesetze, die internationale Unternehmen zur Überprüfung ihrer Lieferketten verpflichten. Nur dann wären sie auch gezwungen, sich aus der Region zurückzuziehen und nicht mehr mitschuldig an der Zwangsarbeit und der Unterdrückung der Uiguren zu sein.  

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