Portischs größter Wurf: "Österreich II"
2010 hat Hugo Portisch dem Verleger Hannes Steiner in 30 Stunden sein Leben erzählt mit dem Auftrag, sein geistiges Erbe einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Steiner hält gemeinsam mit dem Unternehmer Michael Kraus die Rechte an diesen „Toskana Tapes“. Wir bringen die packendsten Auszüge in einer zwölfteiligen Serie.
von Martin Haidinger
An einem Tag im Juni 1981 lädt Gerd Bacher, Generalintendant des ORF, Hugo Portisch und den Kameramann und Produzenten Sepp Riff zum Essen ins Hotel Intercontinental in Wien ein.
Der Bacher hat gesagt: Ihr macht großartige Reportagen überall in der Welt. Macht das doch einmal über Österreich. Frage ich: Wie meinst du das?
Bacher schildert seine Idee zur Aufarbeitung der Geschichte der Zweiten Republik. Daraus entwickelt sich eine spektakuläre Fernsehserie. Unter dem Titel Österreich II gerät sie zu einer der erfolgreichsten TV-Produktionen Österreichs, die von 1981 bis 1995 in 32 Folgen Maßstäbe in der Dokumentation von Zeitgeschichte setzt und später immer wieder ergänzt und neu bearbeitet wird. Doch der Weg zum Erfolg ist steinig, denn 1981 lagert im ORF-Archiv praktisch nichts!
Eine kleine, zusammengeklebte Filmrolle, nicht einmal eine Stunde lang, fast alles zerkratzt. Da sind viele Sequenzen herausgenommen worden, die einmal die „Zeit im Bild“ oder ein Dokumentarist gebraucht und nie wieder zurückgebracht hat. Das war alles, was der ORF zur Zeitgeschichte hatte. Zwar fanden sich noch Filme von Reden auf Parteitagen, aber ohne Ton. Denn die Tonbänder wurden laut Sparerlass gelöscht und wiederverwendet.
Ebenso Fehlanzeige ist bei der Austria Wochenschau, deren leicht entzündliche Nitrofilme verbrannt oder uninteressant waren.
Nicht zu gebrauchen! Zirkuskunststücke in Sibirien und Robbenjagd in Kanada. Aktuelle Berichterstattung über Österreich war auf Sekunden bemessen, aus Proporzgründen ohne politische Botschaft.
Und die heimischen Kinos hatten praktisch alle alten Bestände an amerikanische Silberspekulanten verkauft.
In jedem Filmstreifen ist Silber drin. Die Trödler sind von Kino zu Kino gefahren und haben alle alten Filme zu Höchstpreisen aufgekauft und das Silber ausgewaschen. Wir haben geglaubt, wir fahren aus der Haut! Sage ich: Was machen wir jetzt? Entweder geben wir das Projekt auf oder machen eine Riesenanstrengung. Bacher war natürlich für die Riesenanstrengung. Ich auch!
Erst die Suche in internationalen Archiven macht Österreich II möglich.
Die Alliierten sind schon in der Geburtsstunde Österreichs 1945 gekommen und waren immerhin zehn Jahre da. Die haben doch alle auch sicher Kameraleute mitgehabt. Schauen wir mal, was die gefilmt haben. Das war gleich ein Haupttreffer.
Neben Quellen in Großbritannien, Frankreich und den USA aktiviert Sepp Riff einen alten Kontakt.
Er kannte den Chefkameramann der Sowjetarmee in Österreich, Anatol Koloschin. Der kam schon 1945 mit den Sowjettruppen und blieb fast bis zum Staatsvertrag in Österreich, ist ein halber Wiener geworden und hat Wiener Dialekt gesprochen. Er war mittlerweile zum Professor an der sowjetischen Filmakademie avanciert und hat sich gefreut, dass er seine Wiener wieder sieht …
Trotz Archivsperre von 70 Jahren arbeitet ein Team aus kundigen Historikern wie Stourzh, Jagschitz, Karner, Weinzierl, Rauchensteiner, Rathkolb u. v. a. auf Hochtouren. Das Ergebnis: ein Jahrhundertwerk!
Das hat noch nie jemand hier in Österreich gesehen. Ich sagte: Wir könnten das alles in ein TV-Archiv einbringen. Der ORF wird zum zentralen visuellen Gedächtnis der Nation. Das ist ja toll!
Tatsächlich formt der Historiker Peter Dusek aus dem Material das Historische Archiv des ORF. Der Erfolg beim Publikum ist durchschlagend – Portisch wird von der Allgemeinheit als der Deuter der österreichischen Zeitgeschichte wahrgenommen und damit zu einer nationalen Institution. Später folgen noch Serien wie Österreich I über die Erste Republik und Hört die Signale über die sowjetische bzw. russische Geschichte. Gleich mehrmals bekommen er und Riff die Goldene Kamera, die Romy und viele andere Auszeichnungen.
Trotzdem regt sich mancherorts auch Kritik, die Darstellung der Geschichte sei zu großkoalitionär angelegt, zu harmonisch ausgefallen und befördere die These von Österreich als Opfer Hitlers. Vor allem letzteren Vorwurf lässt Portisch nicht auf sich und seinem Team sitzen.
Wir waren die Ersten, die immer wieder betont haben, dass überall Österreicher mit am Werk waren und bei allen Gräueltaten mitgemacht haben, und wir haben das lange vor der Affäre Waldheim 1986 dokumentiert. Es wurde uns nicht gedankt. Manche behaupteten: „Weiterhin wird in diesem Land alles vertuscht. Hier redet niemand darüber. Alles wird unter den Teppich gekehrt.“ Ich sagte darauf: Bitte, schaut euch unsere Dokumentationen an! Nichts wird unter den Teppich gekehrt! Die ganze Mitschuld Österreichs und der Österreicher – allein in „Österreich I“ haben wir sechs Folgen darauf verwendet. Das hat mich echt hergenommen, die Tatsache, dass wir so minutiös die Dinge nachgewiesen haben, die Mitschuld der Österreicher auf der ganzen Linie – aber es nicht zur Kenntnis genommen wurde. Es konnte eine Öffentlichkeit weiterhin behaupten, dass es nie gezeigt, nie gesagt und nie gehört worden ist. Auch jetzt noch bedienen sich Intellektuelle dieser Floskel „Das Land des Vergessens“ und: die Österreicher machen ja nichts und tun ja nichts. Das hat uns wirklich echt aufgeregt. Mich und meine Mitarbeiter.
Martin Haidinger hat als Ö1-Wissenschaftsredakteur das Material bereits in drei Radiosendungen („Salzburger Nachtstudio“) aufbereitet.
Nächste Woche, Teil 11:
Was Portisch mit Vranitzkys Rede zur Mitschuld Österreichs an den NS-Verbrechen 1991 zu tun hat.
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