Bunte Seepferd-Einhorn-Königin: "Vielfältig ist für uns normal"
Wowhhh – da bleibt der Mund vor Staunen offen, wenn du dieses schwarz-weiß nur mit wenigen rötlichen Strähnchen versehene naturalistisch gezeichnete Gesicht einer Jugendlichen siehst. Und dann das: von links – unterihrem rechten Auge – zieht sich ein schräg nach oben verlaufender Riss durch das Gesicht. Schaut aufs erste heftig aus. Auf den zweiten Blick wieder nicht. Der „Riss“ eröffnet einen Blick auf eine bunte (Welt-)Kugel im Inneren der Person. Über deren linkem Auge der wie eingravierte Schriftzug „Innerworld“. Rund um diesen Kopf schweben noch bunte Kugeln und ein gelber Planet mit rosa Ring.
Anregungen aus Zeichentrickfilmen und Cartoons
Das Kunstwerk stammt von der 16-jährigen Jessica. Der Kinder-KURIER darf sie im Jugendzentrum Marco Polo (JUMP, Wien-Floridsdorf beim Heinz-Nittel-Hof) treffen. „Zu zeichnen begonnen hab ich ungefähr mit sechs Jahren. Ich hab viele Zeichentrickfilme geschaut. Meine Mutter hat eine Galerie, kistenwiese hab ich Bilder im Cartoon-Stil gesehen. Dann hab ich mir Bilder im Internet angeschaut und begonnen sie vor mir zu sehen und sie nachzuzeichnen.“
Das waren aber nur Anregungen, Inspirationsquellen von denen aus die Jugendliche, die im August eine Lehrstelle als Kosmetikerin – „ein erster Schritt zu meinem Berufswunsch Visagistin“ - antritt, ihre eigenen Bilder zu zeichnen und malen begann.
Steht auch für Ausbruch
Zum eingangs beschriebenen Bild ergänzt Jessica, dass der Riss nicht nur den Blick ins bunte Innere der Person ermöglicht, sondern „es auch ein Zeichne dafür ist, dass sie ausbricht, nicht so sein will wie alle anderen“.
Und das hat viel mit der Persönlichkeit der jungen Künstlerin zu tun. „Ich bin schon seit immer ein Sturkopf, eigenwillig.“ Darauf konnten Pädagog_innen offenbar nicht wirklich eingehen – obwohl doch seit Jahrzehnten von Grundsätzen wie „Erziehung zu mündigen, kritischen BürgerInnen“ die Rede und Schreibe ist. Jessica wurde in eine Sonderschule gesteckt. Auf ihre Legasthenie wurde – obwohl das längst vorgesehen ist – keine Rücksicht genommen.
Viel diskutiert
„In Deutsch, Englisch und Mathe hab ich mich dann unterworfen, aber in Kunst, Musik, Biologie usw. hab ich viel und lange mit Lehrerinnen und Lehrern diskutiert. Damit ich keinen Sonderschulabschluss bekommen, hab ich dann sogar freiwillig ein zehntes Schuljahr gemacht und mir dann eine Lehrstelle gesucht.“ Durch Corona hat sich deren Antritt verzögert.
Kreativ und eigenwillig
Jessica zeichnet und malt nicht nur genial, „ich schreib auch gern und viel – Geschichten, vielleicht auch einen Roman“. Nicht nur ihre Kreativität, auch ihre Eloquenz verstärkt noch viel mehr die massiven Zweifel an der fast zehn Jahre zurückliegenden und nie veränderten Entscheidung des Schulsystems.
Die Kreativität – gepaart mit der Eigenwilligkeit – nutzt das JUMP, in dem der KiKu zum Interview zu Gast ist, für Inputs. Die Jugendarbeiter_innen beziehen Jugendliche in die inhaltliche Gestaltung von Schwerpunktwochen ein. „Die Jessy ist da immer mit vorne dabei und bestimmt auch viel mit“, so Jugendarbeiter Peter. Sie berichtet, dass sie Wochen zum Thema Weltraum ebenso initiiert hat wie zu Japan – „vor allem wegen der Anime-Kunst“.
Um Plakatentwurf gebeten
Heuer hat auch die Zentrale der Jugendzentren die Kunstfertigkeit dieser Jugendlichen genutzt und sie gebeten, an der Gestaltung eines Plakates mitzuwirken. Zum sogenannten Pride-Monat hatte ein anderes Jugendzentrum, das vom Rennbahnweg (Wien-Donaustadt), ein Plakat zum Thema „Gender-identitäten“ entworfen. Im Juni findet traditionell in vielen Ländern eine grell-bunte Parade statt. Die kam ursprünglich aus der Lesben- und Schwulen-Bewegung, tritt aber längst darüber hinaus für die gesamte Vielfalt sexueller Identitäten ein. Corona-bedingt fielen diesmal diese Paraden aus, es gab Beflaggung durch regenbogen-bunte Fähnchen und Fahnen und kleinformatigere Abstands-Veranstaltungen.
Sollte nicht gewöhnlich sein
Das besagte vor allem erklärende Schrift-Plakat sah natürlich auch Illustrationen vor – zentral ein Seepferdchen. Bei diesen kleinen Meerestieren werden die Männchen trächtig, die Weibchen spritzen ihnen Eier in eine Bauchtasche, wo diese sie befruchten und später im Brutbeutel austragen. Ein schönes Symbol, dass die Natur vielfältiger ist, als noch immer gängige Rollen-Klischees weismachen wollen.
Krönchen, Algen und bunt
Und was Jessica sozusagen unter die Zeichenstifte kommt, „das sollte nicht einfach normal sein. Als erstes ist mir ein Horn eingefallen und dann hab ich mir gedacht, eine Krone wäre auch cool.“ Und so mutiert das groß die Mitte des Plakates zierende Seepferdchen, das die Künstlerin natürlich auch sehr bunt gestaltet hat, zum Einhorn mit Krönchen am geringelten Schwänzchen. „Den Rand hab ich ein wenig fad gefunden“ und so wachsen nun auf einer Seite bunte Seetang-Ästchen. „Ich wollte, dass dieses Seepferd eine richtige Diva wird mit Crown, eine Art Bitch“.
Elemente anderer Jugendlicher
Und so schwebt über dem Seepferd auch ein buntes Gehirn und ungefähr in der Mitte nebenher ein zwar dunkel gehaltenes, aber ebenfalls farbiges Herz. Dieses hat sich das Plakat von einer Postkarte „ausgeborgt“, die eine andere Jugendliche, Michelle, für die vorjährige Europride Vienna gestaltet hat. Unter dieses Herz hatte sie geschrieben „Love is Love!“ Liebe ist Liebe – egal wer wen liebt sozusagen.
Auf einer anderen Postkarte schütteln einander zwei Menschen die Hände – natürlich vor Corona-Zeiten: Auf einer steht Human Rights (Menschenrechte), auf der anderen LGBTIQ-Rights (Lesbian Gay Bisexual Trans Intersex Queer/Lesbisch Schwul Bi Trans* Inter* Queer – Letzteres steht für abweichend von der Norm). Dieses Symbol war nicht nur auf eine Postkarte gedruckt, es schmückte auch den Truck des Vereins Wiener Jugendzentren bei der Pride im Vorjahr. Das Motiv wurde von der Jugendlichen Samantha entworfen.
Egal ob hetero, homo oder noch anders
Zurück zum Seepferd, das Jessica mit Aquarellstiften gemalt hat, „die sich auch schön verwischen lassen“. Dieses bunte, vielfältig zusammengesetzte Meerestier „drückt für mich auch aus, dass alles voll normal ist, egal ob hetero- oder schwul und lesbisch oder noch was anderes. Und das ist nicht nur für mich, das finden auch die meisten anderen Jugendlichen, wenn wir hier untereinander reden.“
Prinzessinnenjungs - Wie wir unsere Söhne aus der Geschlechterfalle befreien; Nils Pickert
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