Neuer Höchststand: Drei Gründe für die hohen Zahlen
Mit 58.583 Neuinfektionen wurde von Dienstag auf Mittwoch ein Rekordwert erreicht. 416.899 Menschen sind derzeit in Österreich aktiv infiziert – auch das ist ein neuer Höchststand. Ein Absinken der Zahlen scheint nicht in Sicht.
Ist daran alleine das Aufheben nahezu aller Maßnahmen am 5. März schuld? "Es steht jedenfalls an erster Stelle", meint Infektiologe Herwig Kollaritsch. Schon mit den Maßnahmen sei das Niveau der Neuinfektionen hoch gewesen. Dass durch das Fallenlassen der Beschränkungen mehr Infektionen dazu kommen, "war klar", sagt Kollaritsch.
Es sei schwer zu verstehen, dass bei fast täglichen Rekordwerten "alle Vorsicht über Bord geworfen" werde, während noch vor Kurzem bei deutlich niedrigeren Zahlen strengere Maßnahmen galten.
Mit der Aufhebung der Maßnahmen steigt hingegen die Sorglosigkeit, maskenfreie Kontakte nehmen zu. Zwar können Masken weiterhin freiwillig getragen werden oder soziale Kontakte eingeschränkt – Eigenverantwortung habe laut Kollaritsch anders als in Ländern wie Spanien "in Österreich aber nie sehr gut funktioniert".
Für Public Health-Experten Hans-Peter Hutter ist der Anstieg "nicht verwunderlich". "Wenn man alle Maßnahmen fallen lässt, wird damit indirekt gesagt, es ist erledigt und so ist es auch angekommen. Das Signal kam zur falschen Zeit und war aus meiner Sicht nicht wirklich notwendig."
Medizinisch sei das Lockern sämtlicher Maßnahmen nicht nachvollziehbar. Es sei zwar nicht abzuschätzen gewesen, wie hoch die Anstiege sein werden, aber es war laut Hutter vorhersehbar, dass die Neuinfektionen täglich zunehmen werden.
"Man darf nicht vergessen, dass die Lockerungen auf fruchtbaren Boden fallen. Die Pandemie dauert nun schon zwei Jahre und viele sind genervt von den Einschränkungen. Wenn nun quasi per Verordnung gesagt wird, man muss sich nicht mehr halten, dann werden die meisten das auch tun", so Hutter.
Neuerliche Maßnahmen schwierig umzusetzen
Wenn im Herbst neuerlich Maßnahmen erforderlich sein werden - und davon geht Hutter aus - werde es schwierig sein, die Bereitschaft dafür wieder zu erhöhen. "Mein Credo war immer, dass man soziale Kontakte und die Gesellschaft offenhält, insbesondere Schulen und Kinderbetreuung, aber mit gewissen Begleitmaßnahmen wie FFP2-Masken oder die G-Regeln. Maßnahmen, die begleiten, aber nicht zu einem Stillstand führen wie bei einem Lockdown. Dieser Balanceakt ist leider bis heute nicht gelungen", so Hutter.
In Wien, wo ein anderer Weg als im Bund eingeschlagen wurde, zeige sich, dass Maßnahmen erfolgreich sind. Hier gilt nach wie vor die 2-G-Regel in der Gastronomie, ebenso beim Indoor-Sport. Bei Indoor-Veranstaltungen und im Handel auch abseits lebensnotwendiger Geschäfte ist zudem die FFP2-Maskenpflicht weiterhin aufrecht.
"Wir haben das beste Beispiel im eigenen Land – jenes Bundesland, das sich weitgehend bemüht, hat auch die niedrigsten Zahlen. Das ist nun einmal Wien", betont etwa Kollaritsch.
Variante BA.2
Ein zweiter Grund für das weitere Ansteigen der Neuinfektionen ist die mittlerweile in Österreich dominante Variante BA.2. Wer von Omikron spricht, meint meist die Variante BA.1.
BA.2 ist ein Subtyp mit weiteren Mutationen, der nochmals etwas ansteckender ist. Die effektive Reproduktionszahl, die angibt, wie viele Personen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt, ist bei BA.2 rund 1,4-mal höher als bei BA.1. BA.2 verursacht nach jetzigem Wissensstand nicht schwerere Verläufe als BA.1.
Ihre starke Ausbreitung sorgt aber für starke Ausfälle, etwa bei Betreuungspersonal in Schulen und Kindergärten sowie den Gesundheitsberufen in Krankenhäusern.
Nachlassende Immunität
Molekularmediziner Eric Topol, Chef des Scripps Research Translational Institute in La Jolla in Kalifornien, twitterte einen dritten Grund für steigende Zahlen in europäischen Ländern: eine nachlassende Immunität. Topol geht von einer Triade aus, also dass die drei Faktoren, die gelockerten Maßnahmen, die Variante BA.2 sowie die nachlassende Immunität, miteinander in Zusammenhang stehen und voneinander abhängig sind.
Mit nachlassender Immunität meint Topol, dass der Schutz der Booster-Impfung vor einer Infektion im Lauf der Monate nachlässt. Auch der Schutz nach zwei Impfungen lässt ungefähr vier Monate nach der zweiten Dosis nach. Je länger die Booster-Impfung zurückliegt, desto eher ist daher zu erwarten, dass sich die Person mit Omikron infiziert – insbesondere in einer Welle mit vielen Infizierten und wenig Beschränkungen.
Eine kürzlich veröffentlichte britische Studie hat gezeigt, dass die Booster-Impfung – sowohl mit mRNA- als auch Vektor-Impfstoffen – vor einer Omikron-Infektion schlechter schützt als vor einer Ansteckung mit früher zirkulierenden Varianten.
Das belegt auch eine Untersuchung aus Katar: Der Booster mit Biontech/Pfizer schützte zehn Wochen nach der dritten Impfung um ein Drittel weniger effektiv vor einer Omikron-Infektion als in den ersten vier Wochen danach. Auch der Moderna-Booster wurde im Lauf der Wochen weniger wirksam gegenüber einer Infektion, allerdings langsamer als bei Biontech/Pfizer.
Schutz vor schwerer Erkrankung länger
Kollaritsch betont, dass es dabei um den Schutz vor Infektion gehe. "Die Impfung schützt zwar relativ kurz vor symptomatischer Infektion, aber wesentlich länger vor schwerer Erkrankung. Diejenigen, die geimpft sind und den Booster bekommen haben, haben recht gute Karten im Falle einer Infektion nicht schwer zu erkranken."
Anders sei dies bei nur einer oder zwei Teilimpfung bzw. jenen, die bisher auch nicht genesen sind, also deren Immunsystem bisher keinerlei Kontakt mit dem Virus hatte. "In Österreich ist das ein relativ niedriger einstelliger Prozentsatz, aber auch die füllen die Intensivstationen", so Kollaritsch.
Dass Omikron nicht nur "mild" verläuft, sondern vor allem für Ungeimpfte und Nicht-Genesene auch schwere Auswirkungen haben kann, zeigt ein Blick nach Hongkong: Aufgrund der Zero-Covid-Strategie, bei der versucht wurde, die Ausbreitung des Virus mit rigorosen Maßnahmen möglichst einzudämmen, gibt es bisher wenig Genesene. Hinzu kommt eine niedrige Impfquote, insbesondere in der vulnerablen Gruppe der Älteren – nur rund jeder dritte Über-80-Jährige ist geimpft.
Wer geimpft ist, hat großteils den chinesischen Impfstoff Sinovac erhalten, der wiederum laut Studien bei Omikron kaum vor einer Infektion schützt. Allein heuer wurden in Hongkong (7,4 Millionen Einwohner) bereits eine halbe Million Omikron-Infektionen erfasst, es gab rund 2000 Tote.
In Neuseeland, wo ebenfalls eine Zero-Covid-Strategie galt, verlief die Impfkampagne mit den mRNA-Impfstoffen hingegen sehr effizient, in der Gruppe der vulnerablen Älteren ab 80 Jahren sind nahezu alle geimpft. Anfang März meldete Neuseeland (5 Millionen Einwohner) trotz Öffnung fünf Tote und 13 Omikron-Infizierte auf Intensivstationen.
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