Sind die Öffnungen zu früh? Was Experten sagen
Mit Samstag sind in Österreich fast alle Corona-Maßnahmen weggefallen. Es gibt etwa keine Zutrittsregeln wie 2-G oder 3-G mehr, keine Sperrstunde und in der Nachtgastronomie kann wieder gefeiert und getanzt werden. Lediglich im lebensnotwendigen Handel, also in Supermärkten, Apotheken, Banken und ähnlichen Einrichtungen gilt nach wie vor die FFP2-Maskenpflicht, ebenso in öffentlichen Verkehrsmitteln einschließlich Taxis. Auch in Bereichen, wo sich besonders gefährdete Personen aufhalten, wie Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern sowie Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe besteht nach wie vor Maskenpflicht.
Viele Expertinnen und Experten empfinden die Öffnungsschritte als zu früh angesetzt. Das zeigt sich etwa in eigenen Regeln der Stadt Wien. Bürgermeister Michael Ludwig und Gesundheitsstadtrat Peter Hacker verfolgen einen anderen Weg als der Bund. In Wien gilt nach wie vor die 2-G-Regel in der Gastronomie, ebenso beim Indoor-Sport. Bei Indoor-Veranstaltungen und im Handel auch abseits lebensnotwendiger Geschäfte ist die FFP2-Maskenpflicht weiterhin aufrecht.
"Gefahr einer Dauerüberlastung"
Der strengere Kurs der Stadt Wien wird auch von Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien bekräftigt. Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter schreibt Czypionka: "Aus der Gefahr einer Spitzenüberlastung in den Spitälern ist die Gefahr einer Dauerüberlastung geworden. Seit Monaten muss das System mit 2.000 und mehr zusätzlichen Patienten umgehen. Selten war das Ansteckungsrisiko höher."
Täglich kommen 30.000 bis 40.000 neue Fälle hinzu und mangels Contact Tracing gäbe es Hunderttausende Infektiöse. "Gleichzeitig fallen die Masken, unser wichtigster Schutz, und das signalisierte Maßnahmenende erhöht Kontakte und Nachlässigkeit", betont Czypionka.
"Schwierige Zeit für Vulnerable"
Derzeit sind 292.576 Menschen in Österreich aktiv mit dem Coronavirus infiziert. Die Sieben-Tages-Inzidenz liegt bei 2.339,36. Für Czypionka zu viel, um beinahe alle Maßnahmen fallen zu lassen. "Für Vulnerable, die sich nicht auf ihren Impfschutz verlassen können, beginnt eine schwierige Zeit. Für das Personal im Gesundheitswesen und schon mehrfach verschobene Patientinnen und Patienten (Anm.: gemeint sind verschobene OP-Termine) geht die Belastung weiter."
Zwar nehme die Omikron-Variante BA1 in Österreich ab, gleichzeitig steige jedoch Zahl jener, die sich mit der Variante BA2 infizieren. Sie ist noch infektiöser und in Österreich bereits die vorherrschende Variante. Czypionka geht davon aus, dass das Gesundheitswesen längerfristig mit mehr als 2.000 Hospitalisierten und mehr als 200 Covid-Patientinnen und -Patienten auf Intensivstationen belastet sein wird.
"Gerade die Maskenpflicht ist ein vergleichsweise geringer Eingriff. Mit weiteren Lockerungen noch ein bisschen zu warten bis die Saisonalität uns hilft, wäre die bessere Option gewesen", schreibt der Experte auf Twitter.
Zahlreiche Studien belegen, wie wirksam das Tragen von FFP2-Masken zur Reduktion von Ansteckungen ist. Zuletzt zeigte etwa eine US-Studie, dass FFP2-Masken in Geschäften, Restaurants, öffentlichen Verkehrsmitteln und weiteren Bereichen das Infektionsrisiko um 83 Prozent reduzieren. Gutsitzende Gesichtsmasken filtern Viruspartikel aus der Luft. So schützt man nicht nur sich selbst, sondern vor allem auch sein Umfeld.
Maske freiwillig weiterhin tragen
Der Genetiker Ullrich Elling betont ebenfalls die Notwendigkeit von Masken in Innenbereichen und spricht sich dafür aus, den Mund-Nasenschutz weiterhin freiwillig zu tragen – auch, wenn dies gesetzlich nicht mehr verpflichtend ist. "Lernen wir also, unser Risikoverhalten den Inzidenzen und unserer Konstitution anzupassen, nicht nur der Gesetzeslage. Stecken wir uns in den nächsten Jahren möglichst selten an, tragen wir z.B. weiter Masken in Innenräumen!", schreibt Elling auf Twitter.
Der "Freedom-Day", also der Tag, an dem die Corona-Maßnahmen aufgehoben wurden, in Österreich der 5. März 2022, sei eine politische Entscheidung und heiße Übergang zur Eigenverantwortung, nicht Ende der Pandemie. "Ab jetzt gilt es, sich durch angepasstes Verhalten trotz allem nicht zu infizieren. Eine Omikron-Erkrankung schützt nachweislich nicht vor anderen Varianten", twitterte Elling.
Der Genetiker rechnet mit weiteren SARS-CoV-2-Wellen, auch mit gefährlicheren Varianten. Das Virus bleibe erhalten, das müsse sich auch in einem angepassten Verhalten zeigen. Elling: "Langfristig gilt es auch z.B. Krankenhauskapazitäten (= Personal und Bezahlung) und Belüftungsanlagen anzupassen. Vor allem aber: Die naturwissenschaftliche und medizinische Kompetenz zu verbessern und das Miteinander zu stärken."
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