"Verstand verloren": War Aufheben aller Maßnahmen in Dänemark ein Fehler?
Keine Masken, keine Zutrittsregeln und Teilnehmerbegrenzungen: Dänemark hat als eines der ersten Länder Europas alle Corona-Maßnahmen abgeschafft. In dem Sechs-Millionen-Einwohner-Land wird wieder in Clubs und Bars gefeiert, Restaurants sind ausgebucht, die Masken aus öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften verschwunden. Der "Freedom Day" am 1. Februar, also der Tag, an dem die Beschränkungen fielen, wurde im ganzen Land gefeiert, aber nicht nur.
Jetzt, zwei Wochen später, kommen erste Zweifel auf, ob die Lockerungen möglicherweise zu früh gesetzt wurden. Dänemark verzeichnet derzeit eine Sieben-Tage-Inzidenz von 5.500 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner, die Hospitalisierungsrate ist auf dem höchsten Wert seit Beginn der Pandemie. Am Montag wurden 38.000 Neuinfektionen gemeldet. Schwer Erkrankte gibt es allerdings wenige: Nur rund 30 Menschen müssen derzeit landesweit auf einer Intensivstation wegen einer Covid-19-Infektion behandelt werden.
Während viele Menschen in Dänemark hinter dem "Freedom Day" stehen, gibt es zahlreiche Menschen, die der Meinung sind, dass das Fallenlassen der Maßnahmen zu früh stattfand. Aufgrund der hohen Infektionszahlen und damit verbundener Quarantäne fehlen etwa in vielen Branchen Arbeitskräfte. Zuletzt sorgte die Meldung für Aufsehen, dass Rathausmitarbeiter im Kindergarten einspringen, um die Kinderbetreuung aufrecht erhalten zu können, da viele Betreuerinnen ausfielen.
"Epidemie nicht verschwunden"
Noch ist nicht alles wie vor der Pandemie – viele Dänen müssen sich erst an die neue Freiheit gewöhnen, wie eine aktuelle Studie des dänischen Soziologen Michael Bang Peterson zeigt. Er untersucht im HOPE-Projekt das Verhalten der Dänen während der Pandemie. "Die hohen Infektionszahlen beeinflussen die Menschen, egal, ob es Restriktionen gibt oder nicht. Nur, weil die Maßnahmen aufgehoben sind, ist die Epidemie ja nicht verschwunden", sagte Bang Peterson. Während vor dem "Freedom Day" vor allem Sorgen um eine Überlastung der Krankenhäuser und des Gesundheitssystems bestanden, hätten viele nun ein mulmiges Gefühl und Angst, sich selbst anzustecken.
Ein Drittel der Menschen fühle sich laut Bang Petersen dem Virus ausgesetzt. "Gerade viele junge Leute haben das Gefühl, sich in einem ständigen Hindernislauf zu befinden, um sich nicht zu infizieren. Das liegt auch daran, dass sich andauernd jemand in ihrem nahen Umfeld infiziert", erklärte der dänische Forscher. Vor allem ältere Menschen würden sich nach wie vor eher isolieren und versuchen, sich vor einer Ansteckung zu schützen.
"Verstand völlig verloren"
Zahlreiche internationale Experten sowie Regierungen schauen dieser Tage genau nach Dänemark – in vielen Ländern, darunter auch Österreich, gibt es Debatten darüber, ob bzw. wann ebenfalls alle Maßnahmen fallengelassen werden sollen. Nicht überall werden Lockerungen von heute auf morgen gutgeheißen. Der US-Epidemiologe Eric Feigl-Ding fasst seinen Standpunkt zu Dänemark auf Twitter so zusammen: "Die politische Führung hat ihren verdammten Verstand völlig verloren, indem sie alle Covid-19-Abwehrmaßnahmen freigeben." Dazu postete er eine Grafik, die ein exponentielles Wachstum bei den Todesfällen in Dänemark zeigt.
Der dänische Immunologe Kristian G. Andersen twitterte: "Dänemark hat sehr hohe Impf- und Auffrischungsraten, die Krankheiten 'stark' reduzieren. Ja, Menschen 'mit' und 'an' Covid werden in offiziellen Statistiken eingeschlossen. Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen 'es ist nicht so schlimm, wie es sein könnte' und 'es ist vorbei'.“ Und: "Wir sind eindeutig besser aufgestellt als 2020, aber wir sind noch lange nicht über der Ziellinie."
82 Prozent der Dänen sind vollständig geimpft, 62 Prozent haben bisher den Booster erhalten.
Zudem twitterte er den Begriff "Endemischer Wahn" mit der Definition: "Wird verwendet, um den wahnhaften Glauben zu beschreiben, dass die Pandemie vorbei ist und wir zum Leben von 2019 zurückkehren können, indem wir die Tatsache unterdrücken, dass wir weiter innovativ sein und das Virus bekämpfen müssen. Bestes Beispiel: Dänemark."
Die Omikron-Welle ist in Dänemark jedenfalls noch nicht überstanden, auch wenn sich einige optimistisch zeigen. "In der Hauptstadtregion ist die Kurve schon geknackt. Das werden wir auch im Rest des Landes sehen", sagte etwa Oberärztin Åse Bengård Andersen von der infektionsmedizinischen Klinik am Kopenhagener Krankenhaus Rigshospital. Tatsächlich liegt die Inzidenz der dänischen Hauptstadt Kopenhagen weit unter der vieler anderer Gemeinden. Sinken die Zahlen weiterhin, könne sich eine Normalität in etwa einem Monat einstellen, schätzt Forscher Bang Petersen.
Österreich berät am Mittwoch über Lockerungen
In Österreich berät die Regierung morgen, Mittwoch, über Lockerungen und Perspektiven ab März. Public Health Experte Hans-Peter Hutter hält ein Fallenlassen aller Maßnahmen derzeit nicht vorstellbar. "Das hätte auch Konsequenzen für die Impfpflicht, denn, wenn man alle Maßnahmen aufhebt, hieße das ja, dass keine Gefahr mehr besteht. Die Infektionszahlen zeigen aber, dass die Hospitalisierungen sich verdoppelt bis verdreifacht haben. Die schweren Fälle auf den Intensivstationen sind derzeit nur deswegen leicht angestiegen, weil der Immunstatus der Bevölkerung nun besser ist."
Für Ungeimpfte könne Omikron nach wie vor problematisch werden, meint Hutter. "Ein komplettes Aufheben der Maßnahmen halte ich derzeit für nicht sinnvoll, insbesondere nach den Ferien, in denen es verstärkt Kontakte und Reisetätigkeit gab." Sollten Lockerungen beschlossen werden, solle dies gut geplant und in Etappen erfolgen.
Virologin Christina Niccolodi hält es für realistisch, dass wir bald mit Masken als einziger Covid-Maßnahme das Auslangen finden werden. "Aber noch sind wir nicht so weit. Wir haben diese Erfahrungen ja schon gemacht, dass bei zu früher Lockerung die Zahlen wieder steigen. Aus meiner Sicht sollte man damit also noch ein wenig zuwarten."
Kommentare