Trotz guter Impfquote: So viele Kranke wie nie in Israel
Israel gilt als Vorreiter bei der Covid-Impfung und hat sich als "Impfweltmeister" in den Köpfen vieler verankert. Im Vergleich zu anderen Ländern wurden die ersten Impfdosen sehr schnell sehr vielen Menschen verabreicht. Auch in der Forschung gab das Neun-Millionen-Einwohner-Land das Tempo vor. Viele Daten, auf die andere Länder ihre Impfstrategie stützen, stammen aus israelischen Studien.
Aufgrund einer speziellen Vertragsvereinbarung mit Biontech/Pfizer – Israel teilte anonyme epidemiologische Daten von Geimpften zu Studienzwecken mit dem Impfstoffhersteller und war damit maßgeblich an der Erforschung der Impfstoffe beteiligt – waren viele Impfdosen schon früh verfügbar, die Impfkampagne der Regierung wurde schnell umgesetzt. Zuletzt war Israel Vorreiter bei der Verabreichung der dritten und vierten Dosis. Erst durch das Vorpreschen Israels beim vierten Stich ist bekannt, dass dieser weniger effektiv ist als erhofft.
Da wirkt es paradox, dass Israel aktuell Schlagzeilen mit Rekordzahlen bei schwer an Covid-19 erkrankten Menschen macht.
Sonntagabend mussten mit 1.255 so viele Covid-19-Patienten wie noch nie seit der Pandemie im Krankenhaus behandelt werden. Die Zahl der Neuinfektionen lag zu Wochenbeginn bei knapp 54.000, im Schnitt waren es rund 52.300 pro Tag in den vergangenen sieben Tagen. Auch in Israel ist Omikron die dominante Variante. Der Höhepunkt der Omikron-Welle ist aber bereits überschritten – im Jänner war die tägliche Fallzahl auf mehr als 80.000 gestiegen.
Wie lässt sich aber der Höchststand an Schwerkranken erklären, wenn Israel doch Impfvorreiter ist?
Hohes Tempo, Quote im Mittelfeld
Die Antwort darauf lässt sich vor allem durch zwei Faktoren begründen: die tatsächliche Impfquote und die starke Ausbreitung von Omikron.
Zwar war Israel beim Impfen schneller als viele andere Länder. Das hohe Tempo und der Forschungsfortschritt lassen aber in den Hintergrund rücken, dass die Durchimpfungsrate in Israel nicht höher ist als etwa in Österreich. 72,6 Prozent der Menschen in Israel haben mindestens eine Impfung erhalten, hierzulande sind es 75,8 Prozent, die mindestens einmal geimpft wurden.
Die Auffrischungsimpfung haben in Israel bisher 55,1 Prozent erhalten. In Österreich wurde ebenfalls nur jeder Zweite (51,4 Prozent) bisher geboostert.
Die Durchimpfungsrate ist in Israel also in etwa vergleichbar mit jener in Österreich, das Land ist nicht – wie häufig angenommen – im Spitzenfeld. Innerhalb der EU sind in Portugal bisher die meisten Menschen geimpft: 94,5 Prozent haben dort bisher zumindest eine Impfung erhalten, gefolgt von Malta (90,3 Prozent) und Spanien (87,6 Prozent). Bei den Dreifachgeimpften liegt Malta mit 64,8 Prozent vorne, gefolgt von Dänemark (61,8 Prozent) und Belgien (58,3 Prozent).
Für Israel heißt das, dass rund 2,6 Millionen Menschen ungeimpft sind. Laut Statistiken des israelischen Gesundheitsministeriums ist es zwölfmal wahrscheinlicher, dass Covid-19-Patienten über 60 Jahre im Spital ungeimpft sind als dass sie geimpft sind.
54 Prozent aller Covid-19-Patienten in lebensbedrohlichem Zustand haben keinen Booster erhalten.
Auch Geimpfte schwerkrank
Das bedeutet gleichzeitig, dass auch Geimpfte unter den Schwerkranken sind. Dies heißt allerdings nicht – auch wenn es auf den ersten Blick so wirken mag –, dass die Impfung nicht wirkt. Vielmehr handelt es sich um simple Mathematik: Je mehr Menschen geimpft sind, desto wahrscheinlich ist es bei einer hohen Ansteckungsquote, dass auch Geimpfte schwer erkranken. Alleine durch die hohe Anzahl an Neuinfektionen.
Der Höchststand im Jänner von mehr als 80.000 Neuinfektionen pro Tag erklärt, dass sich die Covid-19-Stationen füllten und nun etwas zeitversetzt zu Höchstständen in den Spitälern führen. Die meisten Patienten, die derzeit in Israel behandelt werden müssen, sind über 60 Jahre alt. Viele haben schwerwiegende Vorerkrankungen.
Israel begann im Sommer 2021 als erstes Land mit Booster-Impfungen - die Auffrischung ist bei vielen, insbesondere älteren Menschen, nun also schon wieder einige Monate her. Der Schutz der Früh-Geboosterten daher wahrscheinlich nicht mehr so hoch wie unmittelbar danach. Und wie auch in Österreich fehlt knapp der Hälfte die Auffrischungsimpfung. Diese braucht es aber, um den Impfschutz aufrecht zu erhalten, wie zahlreiche Studien belegen.
Dass Geimpfte in den Spitälern überschätzt werden, kann durch den sogenannten Prävalenzfehler, eine statistische Bezeichnung, erklärt werden: Die Quote der Geimpften unter den Krankenhauspatienten wird unter anderem davon beeinflusst, wie viele Menschen in der Bevölkerung bereits geimpft sind und wie alt sie sind: Je höher die Impfquote, desto größer ist üblicherweise auch der Anteil der Geimpften unter den Krankenhauspatienten – einfach, weil es mehr Geimpfte gibt als Ungeimpfte.
Dass Geimpfte in den Spitälern überschätzt werden, wird in der Statisik als Prävalenzfehler bezeichnet. Gemeint ist, dass die absoluten Zahlen der beiden Gruppen berücksichtigt werden müssen. Ein Beispiel: Von 100 Personen sind 99 geimpft und 1 nicht geimpft. Davon erkrankt eine geimpfte und eine ungeimpfte Person so schwer, dass sie ins Krankenhaus muss. Schaut man dann nur auf die beiden Krankenhauspatienten kommt man zu dem Schluss, 50 Prozent sind geimpft und 50 Prozent ungeimpft.
In Bezug auf alle Geimpften und Ungeimpften sind tatsächlich 100 Prozent der Ungeimpften schwer erkrankt und nur 0,99 Prozent der Geimpften.
Wären hundert Prozent der Menschen geimpft, läge auch der Anteil der Geimpften auf Intensivstationen bei hundert Prozent.
"Ungeimpfte verantwortlich"
Gesundheitsminister Nitzan Horowitz sagte am Dienstag, dass Ungeimpfte für die starke Belastung der Krankenhäuser im ganzen Land verantwortlich seien. Er betonte, dass, obwohl der Höhepunkt der aktuellen Omikron-Welle überschritten zu sein scheint, noch viele Herausforderungen bestehen bleiben. "Die Pandemie lässt nach und ist dennoch kein Grund zum Feiern", sagte Horowitz dem öffentlich-rechtlichen Sender Kan.
Die Krankenhäuser Israels sind an ihrer Belastungsgrenze. Zusätzlich zu der hohen Belegung, sind sie mit Ausfällen aufseiten des Krankenhauspersonals konfrontiert. "Wir haben im Durchschnitt zehn bis 15 Prozent weniger Ärzte und Krankenpflegepersonal, während wir wegen der Flut von Patienten 20 bis 30 Prozent mehr bräuchten", sagte Dror Mevorach, der die Coronavirus-Station das Hadassah Krankenhauses leitet, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Das wirke sich auf die Qualität der Versorgung aus. Mehrere Krankenhäuser berichten zudem über einen Mangel an Spenderblut. Das Sheba Medical Center, Israels größtes Krankenhaus, versucht laut The Times of Israel bereits auf einem eher unüblichen Weg an Blut zu kommen: Sie baten Mitarbeiter und ihre Familie um Blutspenden, andere Krankenhäuser starteten ähnliche Aufrufe.
Öffnungsschritte
Gleichzeitig setzt Israel derzeit wie andere Länder auch auf Öffnungsschritte. "Obwohl jeder Tod schmerzhaft ist, müssen wir uns an die andere Seite der Gleichung erinnern – die Abschaltung der Wirtschaft und die Auferlegung von Beschränkungen schädigt viele Menschen", sagte Nachman Ash, Generaldirektor des Gesundheitsministeriums.
Der "Grüne Pass" wurde weitgehend abgeschafft. Nur noch in sensiblen Bereichen wie Alters- und Pflegeheimen muss der Nachweis für Geimpfte und Genesene vorgezeigt werden, ebenso bei größeren Zusammenkünften wie Hochzeiten. Restaurants, Kinos und Hotels können ohne 2G-Nachweis und ohne Test besucht werden.
Die Menschen wurden aufgefordert, sich selbst zu testen und zuhause zu bleiben, wenn sie krank sind. Gleichzeitig wurden die Quarantänezeiten für Schulkinder, die Kontakt mit Infizierten hatten, verkürzt. Für Dvir Aran, einen biomedizinischen Datenwissenschaftler am Technion – Israels Institut für Technologie in Haifa, sind die Schritte der Regierung "wie das Beobachten eines Zugunglücks in Zeitlupe".
Andere Fachleute begrüßen jedoch, was sie als Aufruf an die Bürger sehen, persönliche Verantwortung zu übernehmen, und argumentieren, dass jegliche Einschränkungen wahrscheinlich nur begrenzte Auswirkungen auf das hoch ansteckende Omikron haben werden.
Aufseiten der belasteten Krankenhäuser gibt es dafür kein Verständnis. "Die Regierung sollte keinen Kindergarten betreiben und sicherstellen, dass Sie zu Hause bleiben, wenn Sie krank sind", sagte etwa Yael Haviv-Yadid, Leiterin der Intensivstation des Sheba Medical Center. "Seien Sie verantwortlich. Tragen Sie eine Maske und lassen Sie sich impfen“, betonte sie gegenüber Reuters.
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