Kontroverser Impf-Ansatz: Junge Superspreader zuerst?
Es war kein Zufall, dass Theresia Hofer vergangenen Sonntag als erste Österreicherin geimpft wurde. Die 84-Jährige zählt zu jener vulnerablen Bevölkerungsgruppe, deren Schutz vor Covid-19 an oberster Stelle steht. Neben Über-80-Jährigen sowie Bewohnern und Bediensteten in Alten- und Pflegeheimen wird dem Gesundheitspersonal an vorderster Corona-Front das Vakzin zuerst angeboten.
Weil momentan nicht unbegrenzt viele Impfdosen verfügbar sind, kommt man um eine Priorisierung bei der Verteilung nicht herum. Ein Vorstoß US-amerikanischer Epidemiologen und Modellierer sorgt nun für Diskussionen: Im Interview mit der Zeitschrift Wired plädieren sie dafür, sich nicht am Alter oder Vorerkrankungen, sondern der sozialen Aktivität zu orientieren – und klassische Superspreader, sprich mobile und gesunde Jüngere mit vielen (Sozial)Kontakten, anfangs bevorzugt zu immunisieren.
Als Treiber im Infektionsgeschehen würden sie das Virus infolge nicht mehr so stark verbreiten. Covid-19-gefährdete Ältere, die oft weniger Kontakte und einen geringeren Bewegungsradius haben, würden nach dieser Impflogik hintangestellt.
Ethisch heikel
Für den Ansatz lässt sich ein wissenschaftliches Fundament finden: So postulierte etwa ein Team um den US-Infektiologen Joshua Schiffer, dass 80 Prozent des globalen Ansteckungsgeschehens von zehn bis 20 Prozent der Infizierten verursacht werden.
Bei der Umsetzung ergeben sich aber beträchtliche Hürden. Für Christiane Druml, Vorsitzende der Österreichischen Bioethikkommission, ist ein Konzept, bei dem zuerst jüngere und gesunde Menschen geimpft werden, ethisch nicht zu rechtfertigen: "Der Staat muss – begründet mit Prinzipien der Fürsorge, des Wohltuns und des Nicht-Schadens – bei Impfstoffmangel darauf achten, dass als erstes jene geimpft werden, die das größte Risiko haben, schwer zu erkranken und zu sterben. Aber auch Personen, die dafür sorgen, dass Staat und Infrastruktur funktionieren und beruflich viele Kontakte haben wie Lehrer oder Polizisten. Sie können das Virus übertragen und sollten nicht ausfallen."
Potenzielle Superspreader zu identifizieren, sei illusorisch: "Ich weiß im Vorhinein nicht, wer von denen, die viele Kontakte haben und sich infizieren, zum Superspreader wird. Der hat ja kein Mascherl."
Auch für den Simulationsexperten Niki Popper von der TU Wien stellt sich "die Frage nach so einer Strategie derzeit nicht. Dazu müsste man wissen, ob die Impfung die Weitergabe von Infektionen verhindert. Das kann man mit den bisherigen Daten noch nicht beantworten." Dem pflichtet Medizinethiker Ulrich Körtner bei, der den Corona-Impfplan für "sinnvoll und begründet" hält: "Solange die Transmissionsblockade nicht belegt wurde, kann das Argument, vorrangig Superspreader zum Schutz des Gemeinwohls vorzuziehen, nicht geltend gemacht werden."
Gezielte Effekte
Nach derzeitiger Prioritätenliste zu impfen wird Wirkung zeigen, sind Wissenschafter der TU Wien und der Tiroler Privatuniversität Umit überzeugt. Bei einem nicht sterilisierenden Impfstoff reduzieren sich Spitalsaufnahmen und Todesfälle bei 2,5 Millionen Geimpften demnach um ein Drittel. Bei Impfstoffen, die Infektionsketten stoppen, ist die Reduktion noch größer.
Popper dazu: "Da die Impfungen sehr zielgerichtet erfolgen, ist auch der Effekt sehr schnell sehr hoch." Wie groß im Vergleich dazu der Effekt wäre, würde man – bei einem Impfstoff, der nachweislich diese Infektionsweitergabe verhindert – zuerst zum Beispiel die 15-bis 30-Jährigen impfen, weil sie die meisten Sozialkontakte haben, habe man noch nicht berechnet. "Sobald wir aber mehr Daten zu den Impfstoffen haben, würden wir uns das ansehen, ob eine andere Strategie als die derzeitige einen größeren Effekt hätte."
"Bis klar ist, ob eine Impfung die weitere Übertragung des Virus vollkommen verhindert, steht in Anbetracht der anfangs vorhandenen Impfstoffmenge der Schutz der Vulnerablen vor einer Erkrankung an oberster Stelle", heißt es auf KURIER-Anfrage jedenfalls aus dem Gesundheitsministerium. Sowohl die Bioethikkommission wie auch das Nationale Impfgremium führen in ihren Empfehlungen aber systemrelevante Multiplikatoren mit erhöhter Priorität. Hier wären neben den bereits genannten Lehrern oder Polizisten auch Mitarbeiter des Einzelhandels zu nennen.
Basis für Fairness
Für Körtner stellen sich abseits der Priorisierung noch grundlegendere Fragen: "Bevor man über eine faire Verteilung redet, muss die Beschaffung ausreichend vieler Impfdosen und Vergabeinfrastruktur gesichert werden. Sind auch am Land ausreichend Dosen und Verteilmöglichkeiten vorhanden? Wurde dafür gesorgt, dass weniger mobile Menschen niederschwelligen Zugang haben? Und wer trägt die Kosten für den Aufwand des Arztes, der Hausbesuche machen soll, um hilfsbedürftige Ältere zu impfen? Es wäre schlimm, wenn am Ende zwar ausreichend Impfdosen zur Verfügung stehen, es aber an Hürden bei der Durchführung scheitert."
Auch eine Priorisierung funktioniere nur, wenn genügend Impfstoff vorhanden ist und dieser rasch verteilt werden kann, sagt Körtner. Dass die Corona-Impfung außerdem für alle Menschen kostenlos ist, sei nicht nur für die Impfbereitschaft relevant, sondern stelle sicher, dass finanziell schlechter gestellte Gruppen Zugang dazu haben.
Stufe 1: Personen ab 80, Bewohner und Personal in Alten- und Pflegeheimen, Gesundheitspersonal mit sehr hohem Ansteckungsrisiko:
Stufe 2: Personen zwischen 75 und 79, sehr gefährdete Vorerkrankte und engste Kontakte, Krankenpflegepersonal, Gesundheitspersonal mit hohem Ansteckungsrisiko:
Stufe 3: Personen zwischen 70 und 75, gefährdete Vorerkrankte und engste Kontakte, Personen/Personal in Asyl- und Obdachlosenunterkünften und Gefängnissen, Kontakte von Schwangeren, Gesundheitspersonal mit moderatem Risiko, Personal in Sozialberufen;
Humane Reihung
Das Gesundheitsministerium erstellt die Priorisierungen in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Impfgremium, dessen Mitglieder in intensivem Austausch mit internationalen Experten stehen. Der deutsche Impfplan ähnelt dem österreichischen stark: Inhaftierte in Gefängnissen, Asylsuchende oder Obdachlose in beengten Gemeinschaftsunterkünften werden vor Lehrern oder Polizisten geimpft.
Das sorgte hierzulande kürzlich für Irritation. Modellierer Popper kann das nicht nachvollziehen: "In diesen Bereichen ist der Bedarf an Impfdosen überschaubar. Wenn man eine Population hat, die ohnehin eher klein ist, aber hohes Erkrankungsrisiko hat und damit hohe Kosten für das System produziert, macht es Sinn, sie zu priorisieren."
Ethiker Körtner dazu: "Wenn die Verletzlichkeit die Basis ist, ist die Vorreihung dieser Menschen absolut nachvollziehbar. Sie sind einem hohen Risiko ausgesetzt und in ihrer Bewegungsfreiheit – Straffällige beispielsweise durch ihre Inhaftierung – stark eingeschränkt. Eine Gesellschaft, die das nicht erkennt, wäre inhuman."
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