Das Leben danach: Geimpft – und jetzt?
Mit seinem triumphierend erhobenen Arm schaffte es Christoph Wenisch bis in die New York Times. Der Leiter der Infektiologie an der Klinik Wien-Favoriten war am Sonntag unter den Ersten, die den Corona-Impfstoff von BioNTech und Pfizer gespritzt bekamen – und wirkte dabei sichtlich erlöst.
Auch Gesundheitsminister Rudolf Anschober zog am Montag eine erste positive Bilanz. "Das war und ist ein großer Tag im Kampf gegen die Pandemie", sagte er. Mit jeder verabreichten Dosis steigt die kollektive Hoffnung auf eine Rückkehr zu jener Normalität, die den Menschen durch das Coronavirus abhandenkam. Eine Hoffnung, die Experten teilen – nicht ohne die Euphorie mit Einschränkungen zu bremsen.
"Es ist davon auszugehen, dass auch geimpfte Personen vorerst alle Schutz- und Hygienemaßnahmen, die wir uns angeeignet haben, beibehalten werden müssen", sagt Infektiologe Herwig Kollaritsch. So werde etwa da Abstandhalten bei größeren Menschenansammlungen in den ersten beiden Quartalen des neuen Jahres relevant bleiben, um das Virus in Schach zu halten.
Aktuell sei unklar, ob Geimpfte zur Weitergabe des Virus fähig sind. Es gebe zunehmend Hinweise darauf, dass sie ein schwächeres Glied in der Infektionskette darstellen, den Erreger also weniger stark verbreiten. "Aber erst, wenn große Teile der Bevölkerung immunisiert wurden, wird man den epidemiologischen Effekt bestimmen können."
Bitte warten
Dem pflichtet Rudolf Schmitzberger, Leiter des Impfreferats der Ärztekammer, bei: "Das Leben, wie es vor der Pandemie war, mag nun greifbar erscheinen. Im ersten Halbjahr 2021 damit zu rechnen, halte ich aber für zu optimistisch." Der Impfstoff könne voraussichtlich Ende Jänner breit ausgerollt werden, "wenn an die zwei Millionen Impfstoffe für Österreich bereitstehen". Auch Anschober verweist bei der "behutsamen und sorgfältigen" sowie logistisch aufwendigen Umsetzung des Impfplans auf den Faktor Verfügbarkeit. Erste Teillieferungen des BioNTech-Pfizer-Präparats erwartet er noch diese Woche.
Dennoch: Für jeden Geimpften wird sich das alltägliche Leben deutlich sicherer anfühlen, ist Kollaritsch überzeugt. Egal ob beim Einkaufen oder Familientreffen, im (nach dem Lockdown wieder geöffneten) Fitnesscenter oder Friseursalon: "Man bleibt für nicht geimpfte Mitmenschen gewissermaßen noch mitverantwortlich, für einen selbst wird die Situation aber sehr viel erträglicher." In Haushalten, in denen mehrere Generationen zusammenleben, kann es nach wie vor zu Infektionen kommen: "Die, die es lebensbedrohlich treffen könnte, werden aber in absehbarer Zeit gut geschützt sein."
Eine rasche Entlastung ist in den belasteten Pflege- und Seniorenheimen und Spitälern zu erwarten, in weiterer Folge in Schulen – sofern die Impfwilligkeit hoch genug ist. "Die Nervosität wird sicherlich sinken, und man wird viel sorgenfreier agieren können. Für geimpfte Menschen wird mit einem Schlag alles sicherer, weil man vor einem schweren Verlauf oder gar einem Todesfall infolge einer Corona-Infektion zuverlässig geschützt ist", sagt Kollaritsch.
Man starte daher auch zurecht in Pflege- und Seniorenheimen, "weil die Daten zeigen, dass dort die meisten schweren Verläufe und leider auch Todesfälle passieren", ergänzt Schmitzberger.
Impfmotivation ankurbeln
Vom Corona-Accessoire schlechthin, dem Mund-Nasen-Schutz, wird die Impfung in naher Zukunft nicht befreien, sind sich Kollaritsch und Schmitzberger einig. Der Fortschritt in der Pandemie werde zeigen, wann die Maskenpflicht gelockert werden kann. Kollaritsch: "Ob wir im Sommer und Herbst langsam dazu übergehen können, die Maske öfter abzulegen und sie infolge ganz an den Nagel zu hängen, wird von der allgemeinen Impfbereitschaft abhängen. Wenn sich die Impfraten in den kommenden sechs Monaten hin zu den anvisierten 60 Prozent entwickeln, bin ich optimistisch, was das Wiedererlangen von Normalität betrifft."
Die Relevanz hoher Durchimpfungsraten untermauert eine Umfrage der New York Times unter 700 Epidemiologen: Rund die Hälfte gab an, nach der Impfung im Alltag erst wieder unbekümmerter zu agieren, wenn 70 Prozent geimpft sind.
Um nach der Versorgung der Risikogruppen erfolgreich in die zweite Impfphase zu starten, müsse man sich in der Kommunikation schon jetzt auf die breite Masse fokussieren, sagt Schmitzberger. Erster Schritt sei die Einrichtung der Info-Hotline (Telefonnummer: 0800 555 621).
Nicht nur die Bevölkerung, auch die Gesundheitsbehörden brauchen einen langen Atem. Das Contact Tracing wird weiterhin als Schlüssel zur Kontrolle des Virus dienen, ist Virologe Christoph Steininger überzeugt. "Wir wissen von früheren Epidemien, dass die Kontaktverfolgung lange nach der Entwicklung eines Impfstoffes wesentlich bleibt, um bei lokalen Ausbrüchen rasch reagieren zu können."
Die Corona-Impfungen schützen nicht zu 100 Prozent. "Eine Restunsicherheit bleibt", sagt Kollaritsch, "insgesamt liefern die Impfstoffe aber eine unglaubliche Performance. Bei anderen Atemwegsinfektionen haben wir keinen einzigen Impfstoff, der so hohe Schutzraten zustande bringt. In Summe ist das alles ein Riesenerfolg."
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