Europäischer Wissenschaftsappell: Ruf nach radikaler Corona-Eindämmung
Die europäische Wissenschaftsgemeinschaft ist besorgt. Sehr besorgt sogar. Seit bald einem Jahr hat SARS-CoV-2 den Kontinent fest im Griff. Eine nachhaltige Stabilisierung der Infektionslage rückt trotz nationaler Einzelbemühungen aktuell wieder in weite Ferne.
Im Fachblatt The Lancet fordern rund 300 Wissenschafterinnen und Wissenschafter um die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut jetzt ein europaweit koordiniertes Engagement zur "massiven Reduktion der SARS-CoV-2-Infektionen".
Der eindringliche Appell: Europas Regierungen sollen sich nicht auf einen Soforteffekt einer Impfung verlassen, sondern stattdessen eine gemeinsame Vision zum Pandemie-Management umsetzen, schreiben die Forscherinnen und Forscher. Ein Lockdown light, also das Zurücknehmen von Maßnahmen bei gleichzeitig anhaltend hohen Infektionszahlen, sei eine "kurzsichtige Strategie". Ziel müsse sein, dauerhaft niedrige Fallzahlen zu erreichen.
Klare Zahlen
Während die Politik sich ungern auf konkrete Maßzahlen festlegt, lehnt sich die Wissenschaftsgemeinde weiter aus dem Fenster: Als Ziel bringen die Forscher zehn neue Infektionen pro Million Einwohner und Tag ins Spiel. Umgerechnet auf die hierzulande gängige Vergleichszahl der 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 wäre das ein Wert von sieben. In Österreich lag die aktuelle Inzidenz am Freitag bei 198. Das heißt, dass sich in einer Woche im Schnitt 198 Personen pro 100.000 Einwohner mit Corona infiziert haben.
Warum der Impf-Pessimismus? "Wegen der anfänglich geringen Kapazitäten und der notwendigen Vorreihung der Risikogruppen, die im Infektionsgeschehen keine wesentliche Rolle spielen, werden wir noch über den gesamten restlichen Winter mit der Pandemie zu tun haben", erklärt die österreichische Epidemiologin Eva Schernhammer, die den Appell zusammen mit Gesundheitsökonom Thomas Czypionka und Komplexitätsforscher Peter Klimek mitverfasst und wie etliche andere namhafte Experten aus Österreich unterzeichnet hat.
Parallel agieren
"Wir sehen, dass sich europäischen Staaten in der Bekämpfung der Pandemie zu wenig koordinieren", sagt Czypionka. Die Ziele zur Eindämmung des Virus kritisiert er als "zu wenig ambitioniert".
Das Problem derzeit: Jedes Land handelt mit zeitversetzten Einzelaktionen auf eigene Faust. So verschärfte etwa kürzlich Deutschland den Lockdown, während man diesen in Österreich lockerte. Die Folge: ein immerwährender Kreislauf steigender und sinkender Fallzahlen, der Grenzöffnungen verunmöglicht. Zu groß ist die Gefahr des Überschwappens von Infektionen.
Kontrollverlust beachten
"Wenn die Fallzahlen sehr hoch sind, funktioniert leider nur mehr ein genereller Lockdown, weil alle anderen Maßnahmen versagen", sagt Statistiker Klimek. Schafft es die EU, die Fallzahlen durch einen koordinierten harten Lockdown während und nach Weihnachten in einem gemeinsamen Kraftakt überall zu senken, könne man wieder kreativer mit Regeln operieren, um Menschen, Gesundheitssystem und Wirtschaft zu schonen.
Zentral seien die nahenden Festtage deshalb, "weil sie uns alle verleiten werde, unvorsichtig zu werden und wir entsprechend schlecht ins neue Jahr starten werden", befürchtet Schernhammer. "Es würde sich stattdessen anbieten, aus den Erfolgen jedes einzelnen Landes zu ziehen. Nur wenn auch in unseren Nachbarländern die Zahlen niedrig sind, wird es uns in Österreich bei offenen Grenzen gelingen das Virus in Schach zu halten und unser Gesundheitssystem und unsere Intensivstation vor der Überlastung zu schützen."
Stolpersteine erkennen
Weniger Erfolge, dafür vielmehr eine Reihe von Versäumnissen orten Klimek und Czypionka im Handeln der heimischen Politik im Umgang mit der Pandemie. "Einerseits wurden der Wissenschaft bislang noch immer keine umfassenden Daten zur Verfügung gestellt. Und man hat sich andererseits im Herbst im Bereich des Contact Tracing nicht auf steigende Zahlen vorbereitet", sagt Czypionka. Niederschwellige Testmöglichkeiten, etwa Testboxen, seien mit Ende November zu spät installiert worden.
In der Vergangenheit sei es außerdem nicht gelungen, Pflegeheime entsprechend gut zu schützen, sagt Klimek, was sich auch an den hierzulande vergleichsweise hohen Todeszahlen zeigt. Allerdings sei das auch beinahe unmöglich, "wenn das Ansteckungsgeschehen draußen explodiert", ergänzt Czypionka. "Auch das spricht für niedrige Fallzahlen, weil der Schutz der vulnerablen Gruppen damit einfacher wird."
Den nun geplanten dritten Lockdown in Österreich sehen die Experten durchwegs positiv. Allerdings sollte er zusammen mit klaren, konkreten und transparenten Zielvorgaben an die Bevölkerung kommuniziert werden, mahnt Czypionka. "Sonst tritt der Effekt ein, dass die Menschen ihn nur aussitzen und nicht bereit sind, sich anzustrengen."
Dass dies vor dem zweiten Lockdown verabsäumt wurde, erkläre auch, warum die Zahlen derzeit nicht ganz so rasch sinken wie nach dem ersten Zusperren.
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