Infektiologe Wenisch: Derzeit viel zu viele tägliche Neuinfektionen
Alles über 100 tägliche Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 "ist zu viel für die Republik". Das sagte der Infektiologe Christoph Wenisch, Leiter der Infektionsabteilung im Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital (Klinik Favoriten), Sonntag in der Ö3-Sendung Frühstück bei mir mit Claudia Stöckl. "Jeden einzelnen Fall wollen wir vermeiden, aber 100 Fälle, das ist durch die Erfahrung klar, das kriegt man gut hin, ohne dass man zu viele Ressourcen bindet und andere Systeme gefährdet, etwa die Wirtschaft, die Schule, etc. Da muss man hin. Das ist das Ziel." Es hänge so viel daran - etwa der Wintertourismus. Derzeit habe Österreich "viel zu viele Fälle mit 200, 300, 400 Fällen, die pro Tag neu dazukommen". An der Infektionsabteilung des Kaiser-Franz-Josef-Spitals wurden bisher 700 Patienten mit einer Infektion mit dem neuen Coronavirus behandelt. Derzeit ist die Abteilung laut Frühstück bei mir voll, 66 Betten sind belegt.
"Derzeit ist der Aufwand extrem, diese familiären Cluster zu kontrollieren, die Gesundheitsbehörden telefonieren sich ab, dass sie da drauf kommen und die Absonderungsbescheide erstellen." An diese sollen sich die Menschen auch halten: "Wenn Absonderungsbescheid drauf steht, dann bleiben wir zuhause." Einkaufen zu gehen mit so einem Bescheid, das sei "wirklich unfair". Wer wisse, dass er infektiös sei, könne "jetzt nicht Autoreifen wechseln gehen und dort jemanden anhusten - das gehört sich nicht".
"Ein ganz furchtbarer Moment"
Ein schwieriger Moment im vergangenen halben Jahr sei es gewesen, als man im März noch nicht genau wusste, was die Erkrankung ausmacht, betonte der Infektionsspezialist: "Der zweite oder dritte Patient, der bei uns im Spital verstorben ist, das war ein Mensch, der war pumperlg´sund sonst, hatte sonst keine Vorerkrankung. Er war ein wenig über 70, die Herzkranzgefäße waren nicht verkalkt. Er war Tennis spielen eine Woche vorher, ein Sportler, der sein Leben in der Pension im Griff hatte."
Das sei ein ganz furchtbarer Moment für ihn gewesen, "weil ich wusste, die Krankheit kann einen Gesunden von jetzt auf gleich quasi umbringen, obwohl wir alles gemacht haben, was uns zur Verfügung stand".
Sterberisiko deutlich gesunken
Da habe man dann gesehen, dass das Virus eine Entzündung im Bereich der Gefäße auslöst. Sehr früh habe man dann bereits eine antientzündliche Therapie mit Cortisonpräparaten und eine antithrombotische - blutverdünnende - Therapie durchgeführt. Auch das Drehen der Patienten - "wie ein Grillhendl" - auf den Bauch habe das Behandlungsergebnis deutlich verbessert. "Dadurch geht der Sauerstoff besser in die Lunge hinein, die Durchblutung des Organs verbessert sich. Das haben wir sehr früh entdeckt." Diese Therapien haben sich durchgesetzt.
Die Folge dieses erworbenen Wissens: "Das Risiko an Covid-19 zu sterben ist deutlich gesunken, weil die Behandlung besser geworden ist."
Die richtige Dosis Cortison sei heute Standardtherapie: Am Anfang hingegen habe man das gar nicht geben dürfen. "Da gab es stundenlange Debatten. Dann sahen wir die ersten Obduktionsergebnisse mit Enzündungen und haben gesagt, das müssen wir geben. Auch die Gerinnungsstörung wurde am Anfang gar nicht behandelt, aber das ist ein ganz wesentlicher Aspekt der Erkrankung. Im Laufe des März sind wir draufgekommen, dass wir eine hochangesetzte Blutverdünnungstherapie brauchen."
Und Wenisch im Rückblick: "Heute tut es mir unendlich leid: Jeden Tag, wo wir da früher drauf gekommen wären, hätten wir Menschleben retten können. Das schmerzt einen."
"Halte viel von der Corona-Ampel"
Von der neuen Corona-Ampel halte er persönlich viel: "Weil wir klare Regeln mit Farben verbinden können. Wenn sich eine Situation ändert, die Fallzahlen raufgehen, weniger Betten zur Verfügung stehen, Ausbrücke nicht kontrolliert werden können, dass dann Maßnahmen gesetzt werden." Mit der Ampel sei das dann leicht nachvollziehbar.
Corona und Schule: "Keine Angst"
Der Schulbeginn mache ihm angesichs der Coronaepidemie keine Angst, auch nicht, was seine drei Töchter (4,6,8 Jahre alt) betrifft - seine sechsjährige Tochter hat morgen, Montag, den ersten Schultag: "Die Kinder werden gemeinsam mit dem Roller zur Schule fahren. Das Wichtigste für mich ist, dass sie beim Gehsteig nicht niedergeführt werden. Das ist mir wichtiger als Corona, weil ich so eine Angst vor einem Auto habe. Mit Corona und den Kindern habe ich überhaupt keine Angst, das ist mir Powidl, weil die Kinder nicht gefährdet sind. Corona ist keine Kinderkrankheit, das ist etwas für Erwachsene." Unter-10-Jährige seien verschwindend betroffen, "ältere können sich schon anstecken, haben aber einen ganz milden Verlauf". Der Schweregrad nehme mit dem Alter zu.
Er werde seine Kinder dann zuhause lassen, wenn sie krank sind: "Auf jeden Fall, wenn ein Fieber da ist. Das ist Krankheit." Immer, wenn eine Unklarheit entsteht, sei heutzutage zu testen. Und das hänge von dem Umstand, wie viele Fälle es gerade in der Region gebe, ab. Bei der derzeitigen Zahl an täglichen Neuerkrankungen (bis 400) müsse man rasch die Hotline 1450 anrufen und sich beraten lassen. Wenn es nur 50 oder maximal 100 neue tägliche Fälle in Österreich gibt, könne man lockerer sein. "Dann ist das Risiko viel geringer, dass mein Kind, das da mit dem Schnupfen vor mir sitzt, auch etwas hat, was in die Richtung Corona geht. So muss man sich da irgendwie durchnudeln. Und wenn es unklar ist, Hilfe suchen oder Maske auf und durch."
Maskenkritik: "Archaisches Wissen"
Mit der Maske schütze ich mich selbst und andere, "das ist etwas, was man selbst in der Hand hat", betonte der Infektiologe in der Ö3-Sendung. Zur Skepsis an der Wirkung von Masken sagte er: "Man kann immer alles anzweifeln, aber das ist nicht lösungsorientiert." Es sei absolut bewiesen, dass die Maske wirkt. Die Kritik an Masken sei ein Festhalten an einem archaischen Wissen. "Das ist so wie die g´sunde Watschen, wenn jetzt einer sagt, die Maske wirkt nicht. Man wusste das im Februar nicht. Damals wusste man nur, dass, wenn man erkrankt ist, das Risiko, andere anzustecken, mit Maske reduziert ist. Das war der Wissensstand vor der Pandemie. Jetzt wissen wir, dass die Maske in beide Richtungen wirkt. Ich kann mich selbst schützen und andere schützen. Wenn jemand an diesem archaischen Wissen vom Februar festhält, ist er ein Ewiggestriger. Evidenz ist da."
Kein Verständnis hat Wenisch dafür, wenn Masken dort, wo sie vorgeschrieben sind, nicht getragen werden: "Maskenverweigerung, wenn es Befehl ist, ist ähnlich wie bei Rot über die Ampel zu fahren oder Fahrerflucht. Das geht nicht, das macht man nicht. Dafür habe ich kein Verständnis. Das gehört bestraft."
Mit Wasser gurgeln
"Querlüften und Durchziehen in den Klassen sei super, die Konzentration des Virus reduziert man dadurch", betonte Infektiologe Wenisch. Da es in der Vergangenheit im Krankenhaus trotz Schutzkleidung zu Ansteckungen gekommen sei, untersuche man auch andere Schutzmöglichkeiten. Derzeit bereite man gerade eine Untersuchung vor, ob Lutschtabletten und ein Nasenspray, der einen Film in der Schleimhaut bildet, damit die Viren nicht so gut anhaften können, einen Schutz bieten könnten. In Zellkulturen habe man eine Wirksamkeit gesehen, ob es beim Menschen auch wirke und Infektionen reduzieren könne, wissen man noch nicht. "Das sind wir beim Vorbereiten. Das wäre aber sehr charmant, wenn so eine Lutschtablette vier Stunden die Schleimhaut schützt, das würde dann super passen auch für die Schule - man muss halt das Lutschen erlauben."
Ein Tipp des Infektiologen ist das Gurgeln mit Wasser. "Die Viren müssen eine zeitlang anhanften und sich ablagern bei den Mandeln, eine typische Eintrittspforte für Keime. Wenn man diese Zeit nutzt, indem man die natürlichen Abwehrmechanismen, die der Mensch hat, verstärkt, helfe ich mir selbst. Dazu gehört das Abwaschen (der Mandeln, Anm.) mit Wasser."
"Imfpung ist ein Gamechanger"
Wenisch geht weiterhin davon aus, dass die Pandemie noch ein bis zwei Jahre andauern werde. "Auch wenn es eine Impfung gibt, heißt das nicht, dass alle Menschen sie gleichzeitig bekommen. Es wird dann halt das soziale Gefälle wieder schlagend werden. Länder, die sich die Impfung leisten können, sind geschützt, andere Länder, die es sich nicht leisten können, sind nicht geschützt.“
In solche Länder werde aber dann gerne auf Urlaub hingefahren und dann werde eine Coronavirus-Infektion vielleicht als Urlaubskrankheit mitgebracht: „Und es ist unbekannt, wie lange die Impfung schützt, weil die Krankheit noch zu jung ist.“ Was die Wirksamkeit einer Impfung betreffe gebe es überhaupt keine Prognose: „Das muss man erst studieren.“
Er sei aber insgesamt sehr zuversichtlich und ebenfalls so wie Kanzler Kurz und Gesundheitsminister Anschober der Meinung, dass es im Jänner einen Impfstoff geben könnte: Er würde sich auch sofort impfen lassen, wenn es eine Genehmigung durch die europäische Zulassungsbehörde gebe. „Dann weiß man zumindest mit einigermaßen Sicherheit, dass dieser Impfstoff ok ist.“
Alles, was derzeit problematisch sei, von Bällen bis zu Après-Ski, werde erst dann wieder gut möglich sein, wenn es eine Impfung gebe: „Die Impfung ist ein Gamechanger.“
Langzeitschäden: "Lunge sieht fürchterlich aus"
Wenisch betonte, dass man auch die Langzeitschäden nicht unterschätzen darf: „Wir haben erst diese Woche bei der Röntgenvisite einen Fall eines Patienten gesehen, der vor drei Monaten, also lange vorbei, erkrankt war. Die Lunge schaut fürchterlich aus in der Computertomographie, und das ist kein Einzelfall, das wird jetzt zunehmend publiziert.“
Dabei gehe es nicht nur um Atembeschwerden, sondern um „strukturelle Veränderungen der Lunge. Wo sich das Lungengewebe nicht mehr hundertprozentig regeneriert, sondern zu einem Narbengewebe degeneriert. Das bedeutet, dass Gasaustauschfläche verloren geht und die Lungenalterung quasi massiv voranschreitet." Dadurch verliert man Lebensjahre. Weil man aber nicht wisse, bei wem es zu solchen Folgeerkrankungen komme, müsse man danach trachten, dass niemand sich infiziere: „Es kann jeder betroffen sein.“
„Von der Stimatisierung wegkommen“
Wenisch sprach in der Ö3-Sendung auch die psychischen Langzeitfolgen an. Viele der schwer kranken Patienten leiden später unter einer posttraumatische Belastungsstörung. „Das ist ein grausliches Trauma nach so einer schweren Erkrankung. Die Menschen sind eingesperrt, sie werden komisch angeschaut von den Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen, die werden gemieden, das haltest du kaum aus.“
Seine Familie und er "wir gehen immer mit Maske zum Supermarkt, die Leute schauen einen an, die wissen, der arbeitet auf der Covid-Station. Die einen finden das eh cool, die anderen sagen, von dem geht eine Gefahr aus. Was mir so weh getan hat waren Berichte von Mitarbeiterinnen, die keinen Termin beim Frauenarzt bekommen haben, weil sie auf der Corona-Station arbeiten. Von dieser Stigmatisierung müssen wir wegkommen. Das ist gemein.“
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