Erster Schultag: Hoffen, Bangen und Angst vor dem Corona-Gespenst
Für 500.000 Kinder und Jugendliche aus Wien, Niederösterreich und dem Burgenland beginnt am Montag die Schule – die 600.000 Schüler im Westen Österreichs haben noch eine Woche Ferien.
Der Herbst wird für sie so beginnen, wie das Frühjahr geendet hat. „Vieles von dem, was Kindsein ausmacht, wird im Klassenzimmer und im Pausenhof nicht mehr erlaubt sein: ausgelassen toben, raufen, sich bewegen, laut schreien“, meint Lisa Müller, Mutter zweier Kinder und Lehrerin an einer Wiener Mittelschule.
Sie kennt die Sorgen der Eltern und der Schüler somit gleichermaßen. „Als Mutter fürchte ich mich davor, ob ich alles unter einen Hut bekomme, sollten die Kinder wieder zu Hause bleiben müssen“, sagt sie. Als Lehrerin denkt sie besonders an die Schüler: „Viele von ihnen haben psychisch ein ganz schönes Packerl zu tragen. Beziehungsarbeit wäre da so wichtig gewesen – doch die war nicht möglich.“
Diese Kinder, die nicht aus stabilen Familien kommen, brauchen deshalb jetzt unsere besondere Aufmerksamkeit, sagt Johannes Achammer, Lehrer und klinischer Psychologe aus Innsbruck. Was ihm zu denken gibt: „Schon vor Corona war jedes vierte Kind psychisch auffällig – durch die Krise haben sich Probleme wie Angststörungen sicher verstärkt. Da kommt dieses Corona-Gespenst dazu – etwas Unsichtbares, das besonders zu Beginn der Krise viele Kinder nicht einordnen konnten.“
Ohne Lobby
Manche Probleme hätten sich in der Zeit noch verschärft: Gewalt in der Familie, exzessives Computerspielen oder Cybermobbing.“ Das Problem: „Es gibt in Österreich viel zu wenige Therapieplätze, die für die Familien kostenlos sind. Dabei könnte man mit einer frühen Behandlung vieles erreichen.“ Nachsatz: „Kinder haben in Österreich keine Lobby. Dabei sind sie unsere Zukunft – dieser Satz sollte mehr sein als eine bloße Worthülse.“ Achammer macht aber auch Mut: „Kinder passen sich schnell Situationen an.“
Das bestätigt Barbara Wallner, Psychologin am Krankenhaus Mödling (NÖ): „Die Krise ist eine Situation, die alle meistern müssen – und kein individuelles Schicksal. Viele Kinder entwickeln dabei eine Resilienz, also eine Widerstandsfähigkeit, und gehen gestärkt aus der Krise hervor. Sie haben erfahren, dass man ihnen etwas zutraut und sie schwierige Situationen meistern können – eine Erfahrung, auf die sie in der nächsten Krise zurückgreifen können.“
Wobei ihrer Ansicht nach der Lockdown nicht für alle Kinder ein Problem gewesen ist: „Denken Sie an Autisten, die sich im Sozialen schwer tun. Für die war es eine Erholung, ein paar Wochen zu Hause sein zu können – zumindest dort, wo sie ein liebevolles Zuhause haben.“
Kein Morgen-Stress
Dort, wo beide Eltern einen sicheren Job hatten, haben Familien sogar die Zeit genossen, wie eine Untersuchung der Universität Wien nahe legt: Wenn die Familien also die Zeit und die Ressourcen hatten, ihre Kinder zu unterrichten. So wie bei Familie Novak aus Wien: „Anfangs war alles chaotisch. Doch als sich nach einer Woche alles eingespielt hatte, war es angenehm – morgens kein Stress, dass man schon um 7 Uhr an der Bushaltestelle stehen muss, sondern in Ruhe frühstücken konnte und später die Hausübungen erledigen.“
Der Stress kam erst wieder, als die Schulen zeitweise geöffnet wurden: „Es waren nur fünf Tage, an denen beide Kinder gemeinsam in der Schule waren. Ich hoffe, so etwas lässt sich im Herbst vermeiden.“
Zu eng, zu laut
Doch in vielen Familien sah es anders aus: Zu wenig Platz, keine Laptops zum Online-Lernen, keine Ruhe. Christian Moser von SOS-Kinderdorf bemängelt, dass das Bildungsministerium für diese Schüler bis heute kein Konzept entwickelt hat. Er fordert: „Für Kinder, die aufgrund der Corona-Krise ein Defizit mitschleppen, braucht es mehr Förderung – die Sommerkurse waren zu wenig.“
Das fängt schon mit der Kommunikation an, wie Gerda Reissner, Lehrerin an der NMS Schopenhauerstraße, weiß: „Die Informationen sind sehr detailliert und werden sicher häufig erweitert – da wünsche ich mir klare und verständliche Formulierungen, die ich auch in guter Übersetzung den Eltern geben kann.“
Sie selbst wird nächste Woche mit gemischten Gefühlen das Klassenzimmer betreten. Einerseits liebt sie ihren Beruf, andererseits sind die Umstände nicht einfach: „Es gibt sicher einige Schüler, die erst am Sonntag aus Risikoländern zurückkehren.“ Ihre Lösung: „Ich werde versuchen, so viel wie möglich außerhalb zu unterrichten – im Freien oder an außerschulischen Lernorten wie Museen.“
Was sich Eltern für das neue Schuljahr wünschen
Beispiel 1: "So viel Normalität wie möglich"
Doppelbelastung. Katharina Helm hat keine andere Wahl: „Weil mein Mann und ich voll arbeiten, müssen meine Kinder in die Schule und in den Kindergarten.“ Die Vorstellung, dass beide zu Hause sind, während sie selbst im Homeoffice ist, bringt die Mutter aus Tribuswinkel in Niederösterreich ins Schwitzen: „Das schafft man auf die Dauer nicht und brennt aus.“
Was sie sich für das neue Schuljahr wünscht? „So viel Normalität wie unter diesen Umständen möglich ist – also Unterricht in der Schule und nicht übers Internet zu Hause.“ Ein Mathematikunterricht über Video sei nun einmal nicht das gleiche wie Schule mit der Lehrerin vor Ort.
Allen Eltern von Kindergartenkindern wünscht sie, dass ihre Söhne und Töchter in den Betreuungseinrichtungen tatsächlich erwünscht sind. „Ich habe von manchen gehört, dass Kinder auch dann abgelehnt wurden, wenn die Mutter im Homeoffice arbeiten musste. Bei uns war das zum Glück anders, worüber ich wirklich froh und dankbar bin.“ Eine Hoffnung hat sie: „Es wäre schön, wenn die Großeltern weiterhin ihre Enkel sehen dürfen – das wäre auch eine Entlastung für uns Eltern.“
Beispiel 2: "Ich bin Vater, nicht Lehrer meines Kindes"
Planlos. Was sich Marcus Arige für die kommenden Monate in der Schule wünscht, kann er in einem Wort zusammenfassen: Planungssicherheit. „Ich möchte wissen, was passiert, wenn plötzlich die Fallzahlen plötzlich nach oben schießen.“
Besonders die Frage, was man mit den Kindern macht, wenn sie wieder zu Hause sind, sei drängend: „Wie viel Online-Learning muss gewährleistet sein? Und wie viel muss ich meinem Kind vermitteln? Ich bin ja nicht Lehrer, sondern Vater meines Kindes.“
Besonders für Eltern von jüngeren Kindern sei der Spagat zwischen Haushalt, Kindererziehung und Job in den vergangenen Monaten oft kaum zu schaffen gewesen. Auf manche Tipps aus dem Ministerium könne er verzichten: „Wenn mein Kind Fieber hat, bleibt es zu Hause – eh klar.“
Was er sich erhofft: „Dass die Schulen über den Sommer so ausgestattet wurden, dass die Hygienekonzepte überall funktionieren können – gibt es etwa überall warmes Wasser, Seife oder ausreichend Desinfektionsmittel?“
Was ihn beruhigt: „Die Betreuung der Kinder ist auch bei der roten Ampel gewährleistet. Das ist besonders für Alleinerziehende, die nicht auf die Oma bauen können, wichtig.“
Beispiel 3: "Holt das Lachen zurück in die Schulen"
Sonderschulen. Die Schule war von einem auf den anderen Tag geschlossen – für Martina Höpler-Amort und ihre jüngste Tochter Magdalena war das ein besonders harter Schlag. Das Mädchen konnte aufgrund ihrer mehrfachen Behinderungen gar nicht einordnen, was da geschah und warum es zu Hause bleiben musste. Und die Mutter sah sich plötzlich in der Rolle einer 24-Stunden-Betreuerin.
Selbst nach der Schulöffnung im Mai war die Stimmung anfangs angespannt. Die Verunsicherungen bei Lehrkörper und Schülern im Notbetrieb war spürbar, an einen normalen Unterricht nicht zu denken. „Es war eher eine Atmosphäre der Angst als eine des freudvollen Lernens. Das spüren Kinder wie meine Tochter ganz besonders.“
Was fehle, sei ein Konzept für Sonderschulen, meint die Mutter und fordert: „Wir müssen dafür sorgen, dass wieder Leichtigkeit in die Klassen einkehrt. Holen wir gemeinsam das Lachen zurück in die Schulen.“ Kinder wie Magdalena, die derzeit auch noch in der Pubertät ist, brauchen dazu noch ganz besonders die Beziehung zu Pädagogen und Mitschülern. „Körperliche Nähe und direkter Kontakt ist für sie essenziell. Online-Lernen funktioniert bei ihr deshalb auch gar nicht.“
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