Das Geheimnis eines langen Lebens: So werden wir in Österreich 100 Jahre alt
Immer mehr Menschen werden 100 Jahre alt – und älter. Der Alterungsprozess wird zum größten Teil vom Lebensstil beeinflusst - dementsprechend viel hängt von unserem Verhalten ab.
"Ich hatte nie Probleme, Freundschaften zu schließen.“ – "Dienstags gehe ich in eine Lesegruppe, danach diskutieren wir." – „Auch in schwierigen Situationen habe ich nie aufgegeben.“ Das sind Aussagen von Hundertjährigen aus einer Studie, deren Autorinnen Charaktereigenschaften von 19 mindestens 100 Jahre alten Menschen erhoben. Lebensfreude, Zuversicht und Kontaktfreudigkeit waren typisch für sie. Positive Beziehungen sind einer jener Faktoren, die starken Einfluss auf die Lebenserwartung haben. Eine US-Studie ergab: 40-jährige Männer können mit einem gesunden Lebensstil im Schnitt 23,7 Jahre länger leben als mit einem ungesunden, Frauen 22,6 Jahre.
Ende Mai lebten laut Statistik Austria 1.756 Menschen in Österreich, die 100 Jahre und älter waren: 1.490 Frauen und 266 Männer. 2004 waren es nicht einmal halb so viele: 570 Frauen und 102 Männer. Die älteste Österreicherin ist 113 Jahre alt. Weltweit wurde die Zahl der mindestens Hundertjährigen 1950 auf 23.000 geschätzt, für 2024 sind es bereits 935.000.
„Ich gehe davon aus, dass die Zahl der Hundertjährigen in den nächsten Jahrzehnten weiter ansteigen wird“, sagt die Biochemikerin und Alternsforscherin Corina Madreiter-Sokolowski von der MedUni Graz. Sie ist Assistenzprofessorin am Gottfried Schatz Forschungszentrum der Grazer MedUni und erforscht Prozesse des Alterns. "Denn das sind Generationen, die nicht mehr vom Zweiten Weltkrieg beeinträchtigt sind und die bereits stark von den Fortschritten der Medizin profitieren."
Zwischen 1990 und 2021 ist im weltweiten Schnitt die Lebenserwartung um 6,2 Jahre gestiegen – pro Jahr um 2,5 Monate. Zwar scheint sich derzeit dieser Anstieg abzuflachen, aber Madreiter-Sokolowski ist zuversichtlich: „Wir haben Chancen, 100 Jahre alt zu werden – bei einem glücklichen Zusammenspiel von Genetik, Lebensstil und Umweltfaktoren. Leider ist diese Chance nicht für jeden Menschen gleich groß. Es gehört auch Glück dazu, dass man trotz aller Bemühungen um ein gesundes Leben nicht unheilbar erkrankt.“
Großer Einfluss des Lebensstils
75 Prozent des Alterungsprozesses werden durch den Lebensstil und Umweltfaktoren geprägt, 25 Prozent durch die Gene. „Das bedeutet, dass man zu 75 Prozent seinen Alterungsprozess aktiv beeinflussen und verlangsamen kann. Der Lifestyle wird also in der Gesamtheit mächtiger als die genetische Veranlagung angesehen.“
Zu 25 Prozent sind diese Möglichkeiten in unterschiedlichem Ausmaß eingeschränkt.
„Ein dramatisches Beispiel ist die Erbkrankheit Progerie: Da ist ein einziges Protein mutiert. Dadurch ist der Alterungsprozess von Gewebe und Organen deutlich beschleunigt, Kinder werden zu Greisen. Diese beschleunigte Alterung können wir heute noch nicht verlangsamen.“
Wobei es nicht nur um die Gesamtzahl der Lebensjahre, sondern um mehr gesunde Lebensjahre geht. 2022 hatten in Österreich laut EU-Statistik Männer im Alter von 65 Jahren noch 9,4 und Frauen noch 9,5 gesunde Jahre vor sich. In Schweden waren es hingegen 13,5 Jahre bei den Männern und 14,3 Jahre bei den Frauen.
Ein Forschungsteam hat 2023 „zwölf Kennzeichen des Alterns“ veröffentlicht: Etwa chronische Entzündungen, eine Beeinträchtigung des Recyclingsystems der Zellen, eine Schädigung der Kraftwerke der Zellen, der Mitochondrien, sowie eine veränderte Zusammensetzung der Mikroorganismen oder ein Verschleiß der Telomere, der Schutzkappen an den Enden der Chromosomen des Erbguts. „Lebensstil-Faktoren, die als Anti-Aging-Strategien wirken, zielen darauf ab, diese Prozesse positiv zu beeinflussen und zu verlangsamen.“
Dazu zählt etwa, die Autophagie, die Fähigkeit der Zellen zur Selbstreinigung, anzukurbeln. Dabei bauen Zellen beschädigte oder überschüssige Zellbestandteile ab, recyceln oder verwerten sie und verjüngen sich auf diese Weise. Ein weiterer Weg ist es, die Stressresistenz der Zellen gegenüber schädigenden Einflüssen zu erhöhen.
Etwa mit Bewegung: „Beim Training erhöht sich kurzfristig die Konzentration an Sauerstoffradikalen in der Muskulatur. Dadurch wird das körpereigene Abwehrsystem angestachelt – die Produktion jener Eiweißstoffe, die diese Sauerstoffradikale unschädlich machen, wird zum Beispiel hochgefahren.“ Durch regelmäßiges Joggen erhöht sich etwa die Lebenserwartung von Männern um 6,2 und von Frauen um 5,6 Jahre, ergab eine dänische Studie.
Als sehr effektiv hat sich eine moderate Reduktion der Kalorienmenge von 15 Prozent erwiesen: „Das ist nicht viel, bereits ein Müsliriegel weniger am Tag kann den Unterschied ausmachen.“ Bekommen Fadenwürmer weniger zu fressen, verlängert sich ihr (circa 30-tägiges) Leben um das 1,5-Fache. „Ihr Organismus kann sich besser gegen Substanzen, die Entzündungen begünstigen, zur Wehr setzen. Zudem werden Reparaturmechanismen der DNA (Erbsubstanz, Anm.) aktiv, wodurch das Wachstum von Tumorzellen unterdrückt wird.“
Gesunde Probanden reduzierten für die sogenannte CALERIE-Studie ihre Nahrungsaufnahme um 15 Prozent. Innerhalb von sechs Monaten gingen Entzündungswerte im Blut deutlich zurück, auch der Körperfettanteil reduzierte sich. Die Werte des schädlichen LDL-Cholesterins sanken, ebenso der Blutdruck. Die Insulinsensitivität, das Ansprechen der Zellen auf das blutzuckersenkende Hormon Insulin, stieg an.
Ein Anti-Aging-Effekt wird auch dem Intervallfasten zugeschrieben, wenn über einen Zeitraum von zumindest 16 Stunden gefastet und nur in den verbleibenden acht Stunden eines Tages gegessen wird. „Hier wird der Selbstreinigungsprozess der Zellen kurzzeitig sogar noch etwas höher aktiviert als bei der stetigen Kalorienreduktion. Und auch Tumorsuppressoren werden durch Intervallfasten schneller aktiviert.“
Intervallfasten nur zeitweise
Doch Madreiter-Sokolowski ist zurückhaltend: Eine heuer auf dem Kongress der American Heart Association präsentierte Studie mit Daten von 20.000 Probanden brachte Intervallfasten mit einem höheren Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu versterben, in Verbindung. Dieses Ergebnis ist nicht unumstritten, es sei nicht eindeutig erwiesen, dass das Intervallfasten die Ursache des erhöhten Herz-Kreislauf-Risikos sei, lautet die Kritik an der Studie: „Aber es gibt jetzt zumindest ein Indiz, dass Intervallfasten nicht nur positiv sein könnte“, erläutert die Alternsforscherin.
Wenn Intervallfasten, dann nur für einige Wochen im Jahr, aber nicht dauerhaft, rät sie: „Es hat sich gezeigt, dass der 24-Stunden-Rhythmus der Hormonausschüttung dadurch gestört werden kann.“ Dies könne sich beispielsweise auf die Fruchtbarkeit von Frauen und Männern auswirken – „drastisch wird dies sichtbar durch das Ausbleiben der Menstruation bei Frauen“. Als dauerhafte Maßnahme sei aus ihrer Sicht die moderate Kalorienreduktion empfehlenswerter – dabei komme es ebenfalls zu einem langfristigen Gewichtsverlust. „Aber auch das ist nur etwas für gesunde Menschen im mittleren Alter und sicher nichts für Jugendliche, Schwangere oder ältere Menschen ab 60 wegen der Gefahr des Abbaus von zu viel Muskelmasse.“
Ein Kennzeichen des Alterns ist auch „die Anhäufung von seneszenten Zellen“, erklärt Madreiter-Sokolowski. „Werden Zellen alt (seneszent), hören sie auf, sich zu teilen – das ist ein Schutz vor Krebs. Denn mit der Alterung der Zellen häufen sich genetische Veränderungen im Erbgut an.“
Negative Folgen des Alterns abmildern
Allerdings schädigen diese Zellen umliegendes Gewebe, indem sie u. a. Sauerstoffradikale abgeben und Entzündungsprozesse auslösen. „In der Regel kommt es um das 60. Lebensjahr zu einem deutlichen Anstieg seneszenter Zellen, die dann mitverantwortlich für altersbedingte Erkrankungen sind.“ Künftig könnten spezielle Medikamente die negativen Folgen abmildern:
Senomorphika zögern die Entstehung seneszenter Zellen hinaus. Madreiter-Sokolowski konnte zeigen, dass Inhaltsstoffe aus dem Grünen Tee, die Katechine, eine derartige Wirkung bei Fadenwürmern haben.
Senolytika lassen gezielt seneszente Zellen absterben – das konnte das Team um Madreiter-Sokolowski beim Pflanzeninhaltsstoff Resveratrol, der u. a. in der Schale von roten Trauben vorkommt, nachweisen. Dasselbe gilt etwa auch für den gelben Pflanzenfarbstoff Quercetin.
Während die Alternsforscherin „zwei bis drei Tassen Grüntee“ am Tag empfiehlt, warnt sie davor, mit Rotwein Resveratrol aufnehmen zu wollen: „Ein Glas Rotwein enthält ca. ein Milligramm davon. Um möglicherweise einen Effekt zu erzielen, müssten es aber bis zu 500 mg am Tag sein.“
Ein Forschungsverbund mit Beteiligung von Wissenschaftern der Karl-Franzens-Universität Graz untersucht die Substanz Spermidin: Sie konnten zeigen, dass Spermidin – wie das Fasten – das zelluläre Reinigungsprogramm anregen kann. Dadurch konnte mithilfe von Spermidin auch die Lebensspanne von Fruchtfliegen oder Mäusen verlängert werden. Zudem zeigten erste Studien am Menschen Hinweise darauf, dass Spermidin positive Auswirkungen auf alterungsbedingte Erkrankungen – etwa im Bereich des Nervensystems (z. B. Demenz) oder des Herz-Kreislauf-Systems – haben kann.
„Ich halte Substanzen wie die Katechine, Resveratrol, Quercetin oder auch Spermidin grundsätzlich für vielversprechend, um den Alterungsprozess zu beeinflussen“, sagt Madreiter-Sokolowski. „Aber die Langzeitstudien am Menschen fehlen – diese müssen zu allererst die Sicherheit bestätigen. Zudem muss erst untersucht werden, wann und in welcher Dosierung wir diese Interventionen starten müssen, um eine lebensverlängernde Wirkung zu erzielen.
Grüntee-Extrakte zum Beispiel haben – in niedriger Dosierung – tatsächlich eine antioxidative Wirkung. Aber ist die Dosis zu hoch, kann sich das in eine zellschädigende Wirkung umkehren.“
Zudem sei die Bioverfügbarkeit dieser Substanzen oft schlecht, „wodurch auch weitere chemische Veränderungen notwendig sein werden, um die Wirksamkeit im Menschen zu sichern“. Beim Resveratrol beispielsweise sei die Bioverfügbarkeit so gering, dass nach Substanzen gesucht werde, die dieselbe Wirkung haben, aber besser aufgenommen werden.
„Es wird die Aufgabe der kommenden Jahrzehnte sein, mit Studien sichere und gleichzeitig effektive Dosierungen für diese Substanzen, welche derzeit als Nahrungsergänzungsmittel deklariert sind, festzulegen – so, wie das auch bei Medikamenten der Fall ist.“
Warum auch Ballaststoffe so wichtig sind
Erwiesen ist, dass eine pflanzenbasierte Ernährung einen lebensverlängernden Effekt hat – entscheidend dafür sind laut Madreiter-Sokolowski neben den lebensnotwendigen Kohlenhydraten, Eiweißen, Fetten, Vitaminen und Mineralstoffen auch die Ballaststoffe. „Sie regulieren den Blutzuckerspiegel, sättigen und führen dazu, dass man weniger isst. Dadurch sinkt das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2 und Krebs.“ Denn vor allem das Körperfett um die Bauchorgane herum „ist ein großer Entzündungsherd“, der etwa die Entstehung von Krebs begünstigen könne.
Und die Molekularbiologin betont: „Momentan liegt die Grenze für das maximal erreichbare Lebensalter bei circa 120 Jahren. Daran ändert der beste Lebensstil nichts. Aber wenn man alle Vorsorgemöglichkeiten ausschöpft, seine persönlichen Risikofaktoren kennt und, wo möglich, diesen früh gegensteuert, dann können viele Menschen ihre Jahre in guter Gesundheit erhöhen.“
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