Die Menschen mit den gesündesten Herzen: Was wir von ihnen lernen können
Seit 20 Jahren wird der Gesundheitszustand der Tsimané in Bolivien dokumentiert. Ein Anthropologe und eine Internistin erläutern, was an ihrem Lebensstil und Einstellungen auch für uns von Bedeutung sein kann.
„Ich kann nicht mehr weit gehen“, sagt der 78-jährige Juan – und meint damit, dass er höchstens zwei Tage unterwegs sein könne, etwa, wenn gejagt werden muss …
Juan gehört zur Gemeinschaft der Tsimané im Amazonas-Tiefland im Nordosten Boliviens, rund 600 Kilometer nördlich von Boliviens größter Stadt, La Paz. Ein Team der BBC dokumentierte nun das Leben dieser Ureinwohner, die Überschrift zu einer begleitenden Reportage lautete: „Tief im amazonischen Regenwald lebt eine Gemeinschaft, deren Herzen langsamer altern“. Andere Medien schreiben sogar von den Menschen mit den „gesündesten Blutgefäßen“ bzw. mit den „gesündesten Herzen“ der Welt.
Der US-AnthropologeMichael Gurven von der University of California in Santa Barbara erforscht mit seinem Team seit mehr als zwei Jahrzehnten die Lebensweise und den Gesundheitszustand der rund 16.000 Tsimané. Er ist einer der Direktoren des „Tsimane Health and Life History Project“. Und er beschreibt gegenüber dem KURIER, welche ihrer Lebensweisen und Einstellungen Menschen mit einem westlichen Lebensstil zu einem gesünderen und zufriedeneren Leben verhelfen können.
Die österreichische Internistin und Diabetologin Yvonne Winhofer-Stöckl sieht in den Studienergebnissen bei den Tsimané "eine Motivation, sich nicht zurückzulehnen".
Die Tsimané leben noch weitgehend als Selbstversorger – sie jagen, fischen, sammeln Früchte und bauen für den Eigenbedarf u. a. Maniokwurzeln, Mais, Reis und Kochbananen an. Von den Stunden mit Tageslicht verbringen sie nur zehn Prozent sitzend.
2017 sorgte eine Studie im Rahmen dieses Projekts erstmals für internationales Aufsehen. Mittels Computertomografie wurde bei 705 Tsimané im Alter von 40 bis 94 Jahren untersucht, ob und in welchem Ausmaß Verkalkungen der Herzkranzgefäße nachweisbar sind – und daraus das Risiko für Herzerkrankungen ermittelt: 65 Prozent der 80-Jährigen hatten gar keine Ablagerungen in den Herzgefäßen und damit kein erhöhtes Risiko für eine Herzgefäßerkrankung.
Bei einer vergleichbaren Studie an US-Amerikanern waren nur 14 derart herzgesund. „Die Tsimané haben die niedrigste Rate an Atherosklerose in allen bisher erfassten Bevölkerungsgruppen“, sagt Gurven. Oder wie es sein US-Kollege Hillard Kaplan von der University of New Mexico gegenüber der BBC formuliert: „Die Arterien eines 75 Jahre alten Tsimané entsprechen mehr den Arterien eines 50-jährigen US-Amerikaners.“
Aber was ist das Geheimnis dieser guten Gesundheit? Und was können Menschen mit westlichem Lebensstil von den Tsimané lernen?
„Erstens, dass allein ein gesunder Lebensstil dafür sorgen kann, dass wir ein hohes Alter mit gesundem Gehirn und Herz erreichen – frei von vielen der chronischen Krankheiten, die normalerweise mit dem Altern einhergehen“, schreibt Michael Gurven, derzeit wieder in Bolivien unterwegs, an den KURIER.
„Die Tsimané sind alles andere als Vegetarier und essen zwar viel Fleisch und Fisch, aber nur sehr wenige verarbeitete Lebensmittel.“ Den Großteil ihrer Kalorien beziehen sie aus Kohlenhydraten (z. B. Maniokwurzeln, Bananen, Mais, Reis, Früchte und Samen).
16.000 Schritte täglich
Zumindest die Tsimané der älteren Generationen legten zeit ihres Lebens täglich rund 16.000 Schritte zurück. Aber „sie machen keinen Sport“, schreibt Gurven: „Körperliche Aktivität ist notwendig, um Nahrung zu finden und zuzubereiten, um die Familie zu besuchen und um Spaß zu haben.“ Und der Großteil der körperlichen Aktivität passiert auf geringem bis moderatem Anstrengungsniveau.
Für Tsimané ist die Familie alles, sagt Gurven. „Die Familien sind groß, leben in unmittelbarer Nähe zueineinander, und die Menschen sind selten allein – auch die Älteren.“ Das fördere „eine Art von Wohlstand, den viele von uns in eher individualistischen Kulturen aus den Augen verloren haben“.
Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt aber nur bei 50 Jahren – eine Folge von zahlreichen unbehandelten Infektionen, darunter viele Parasiten wie Würmer. Wer diese überlebt und sehr alt wird, der wird gesund alt.
So ist die Häufigkeit von Demenz bei den Tsimané eine der niedrigsten weltweit, zeigte eine 2023 erschienene Untersuchung: Sie lag bei den Über-80-Jährigen bei nur knapp über einem Prozent. Zum Vergleich: In Westeuropa sind bei den 80- bis 84-Jährigen zwölf Prozent von Demenz betroffen, bei den Über-85-Jährigen sogar knapp 25 Prozent.
Doch auch die Lebensweise dieser Amazonas-Ureinwohner ist im Wandel begriffen. Die Bedeutung der Jagd geht zurück – Waldbrände haben die Zahl der Wildtiere reduziert, stattdessen werden jetzt mehr Rinder gehalten. Auch gerudert wird seltener, dafür erleichtern Außenbordmotoren die Fahrten auf dem Fluss Maniqui. Immerhin sind es 100 Kilometer bis zur nächstgelegenen Stadt.
Das alles wirkt sich auch auf den Gesundheitszustand der jüngeren Generation aus: Vor 20 Jahren gab es praktisch keine Diabetes-Fälle, jetzt werden sie mehr, und auch die Cholesterinwerte steigen bei den Jüngeren bereits an.
Große Veränderungen
„Die Lebensweise der Tsimané verändert sich rapide“, schreibt Gurven. „Holzfäller haben viele große Bäume abgeholzt, Siedler dringen in ihr Gebiet ein.“
Eine zunehmende Zahl von Teenagern und jungen Erwachsenen hat ein Smartphone – bis vor wenigen Jahren waren Mobiltelefone oder Festnetzanschlüsse noch unbekannt. Doch noch sprechen alle Tsimané ihre Muttersprache und bewahren einen Großteil ihrer Kultur.
Und was hat der jahrzehntelange Kontakt zu dieser Gemeinschaft bei dem Anthropologen selbst verändert?
„Mehr meine Denkweise als alles andere“, antwortet Gurven: „Ich versuche, mehr in der Gegenwart zu leben und mir weniger Sorgen über die mögliche Zukunft zu machen. Und während viele von uns mit der Work-Life-Balance kämpfen, sehen die Tsimané da keinen großen Gegensatz. Arbeit ist Leben, Leben ist Arbeit.“
Auch er versuche, beides zu kombinieren, die Grenzen zwischen Arbeit und Leben zu verwischen – „was für manche Leute schrecklich klingen mag“. Und warum tue er das? „Um beides erfüllender und sinnvoller zu machen.“
Auch die Internistin und Diabetologin Yvonne Winhofer-Stöckl, Oberärztin an der Diabetes- und Lipidambulanz an der MedUni / AKH Wien, sieht in den Studienergebnissen viele Elemente, die den Lebensstil vieler Menschen in Österreich verbessern können.
KURIER:Hat Sie etwas an den Studien mit den Tsimané überrascht? Yvonne Winhofer-Stöckl: Was ich sehr spannend finde, ist, dass die Alltagsbewegung diese Menschen gesund hält. Sie gehen nicht ins Fitnessstudio oder laufen keinen Marathon. Natürlich bringt auch das etwas für die Gesundheit, aber bereits vermehrte Alltagsaktivität hat einen sehr positiven Effekt. Wenn es nicht gerade der Sonntagsspaziergang ist, dann geht man ja auch oft doch relativ zügig, um nicht zu spät zu kommen, ein öffentliches Verkehrsmittel zu erreichen – und hat damit auch einen Trainingseffekt.
Und bei der Ernährung? Der hohe Anteil an Kohlenhydraten bei den Tsimané ist kein Problem, weil diese aus unverarbeiteten Lebensmitteln wie Getreide, Kartoffeln oder zum Teil auch Früchten stammen. Sie sehen die Produkte vor sich und können gut abschätzen wie viel sie brauchen, um satt zu werden. Es kommt auch zu keiner Zuckerüberlast. Bei verarbeiteten Lebensmitteln überisst man sich leichter und ist auch die Aufnahme von Zucker, Glucose und Fructose (Fructose), viel höher.
Wir hätten so gerne, dass die Gene für unser Übergewicht oder für Typ-2-Diabetes verantwortlich sind. Aber der genetische Anteil an den Ursachen liegt nur bei ca. 25 Prozent. Die Studien können eine Motivation dafür sein, sich nicht zurückzulehnen und zu sagen, die moderne Medizin wird es später schon richten, sondern aktiv einen Beitrag zu leisten, um gesund zu bleiben. Sobald man passiv wird, das zeigt sich ja auch, steigen etwa Blutzucker- und Cholesterinwerte.
Kommentare