Coronavirus: Wie wahrscheinlich ist eine zweite Welle?
Der deutsche Virologe Hartmut Hengel ist ärztlicher Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Freiburg und Präsident der Gesellschaft für Virologie (GfV).
KURIER: Wenn Sie auf die vergangenen Wochen zurückblicken: Gibt es etwas, womit Sie im Zusammenhang mit dem Coronavirus so nicht gerechnet hätten?
Hartmut Hengel: Was mich überrascht hat, ist, dass das Virus weltweit ein ähnliches Gesicht zeigt. Natürlich gibt es auf den ersten Blick Unterschiede, etwa bei der Sterblichkeit, aber das hängt mit dem Zeitpunkt der gesetzten Maßnahmen und der Kapazität der Gesundheitssysteme zusammen. Insgesamt scheint das Virus in allen Ländern – unabhängig von der ethnischen Herkunft der Bevölkerung – ähnlich gefährlich zu sein. Und diese Gefährlichkeit übersteigt jene des Influenzavirus eindeutig. Es gibt derzeit keine regionalen Virus-Mutationen, die Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf haben und es zeigt sich bis jetzt auch keine Abschwächung der Infektiosität und der Letalität.
Aussagen wie „das ist doch nur eine Grippe“ sind also nicht mehr haltbar?
Es ist heute Konsens innerhalb der Wissenschaft, dass SARS-CoV-2 mehr schwere Infektionen verursacht und dadurch auch mehr Spitalsaufnahmen und mehr Sterbefälle als ein saisonales Influenzavirus. Diese Infektionssterblichkeit – also der Prozent aller Infizierten, die verstorben sind, einschließlich der Dunkelziffer – liegt ein Mehrfaches über jener der saisonalen Influenza, nach letzten Analysen mit 0,75 Prozent ungefähr beim Sieben- bis Achtfachen der saisonalen Influenza. Und dieses Virus zeigt eine sehr starke Altersabhängigkeit, wobei höheres Alter – über 65 – und bestimmte Vorerkrankungen zunächst zwei voneinander unabhängige Faktoren sind, die aber auch in Kombination auftreten können. Die stärkere Betroffenheit der Männer bestätigt sich ebenfalls in vielen Ländern.
Kennt man dafür die Gründe? Ist Ihre Immunabwehr schwächer?
Das ist noch weitgehend Spekulation. Hormonelle Unterschiede können eine Rolle spielen. Man weiß zum Beispiel aber auch, das für die Immunabwehr relevante Gene auf dem X-Chromosom liegen – und davon haben Männer nur eines und Frauen aber zwei. In Zusammenhang mit COVID-19 würde ich nicht von einer generell schwächeren, sondern eher von einer qualitativ etwas anderen Immunabwehr der Männer reden.
Wenn Sie rückblickend den „Corona-Lockdown“ in Deutschland und Österreich betrachten: Waren die Maßnahmen zu radikal?
Wissenschaftlich betrachtet können wir noch nicht sehr genau sagen, welche spezifische Eindämmungsmaßnahe wie stark dazu beigetragen hat, die Viruszirkulation effektiv zu reduzieren. .Deshalb denke ich, dass die Politik in Deutschland oder Österreich richtig gehandelt hat – sie hat alle Hebel, die ihr zur Verfügung stehen, genutzt. Schließlich wussten wir vorher nicht, welcher der entscheidende Hebel ist, also mussten wir viele Hebel umlegen.
Die Schließung von Kindergärten etwa war sehr umstritten.
Dass es nur ganz wenige schwere Erkrankungen bei Kindern gibt heißt nicht, dass von ihnen keine Infektionen in Familien hineingetragen werden. Wir kennen den Anteil der Infektionen, die von Kindern ausgehen, noch nicht genau, aber es ist nicht so, dass Kinder gar keine Infektion übertragen würden. Deshalb kann man die Schließung in der erste Phase der Pandemie mit den stark steigenden Erkrankungszahlen im Sinne des Vorsorgeprinzips schon begründen.
Vielfach gilt Schweden nach wie vor als Vorbild.
Die Sterblichkeitsrate ist in Schweden drei Mal höher als in Deutschland – und die Zahl der aus meiner Sicht unnötig Verstorbenen nimmt noch weiter zu. Mit der Strategie von ein bisschen Distanzierung geht die Zahl der Neuinfektionen zwar nicht mehr exponentiell nach oben, bleibt aber offenbar längerfristig auf einem relativ hohen Plateau, das ist derzeit in Schweden der Fall. Wenn man die Infektionen wirklich reduzieren will, muss man viele Eindämmungsmaßnahmen für eine gewisse Zeit konsequent umsetzen.
Der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnel geht davon aus, dass bereits 20 Prozent der Bevölkerung Antikörper gebildet haben und immun sind.
Ganz neue Studien aus Schweden zeigen, dass Herr Tegnel sich irrt und nur ca. sieben Prozent Antikörper haben. Das Konzept der Herdenimmunität ist bei Coronaviren sehr fraglich: Sie sind so konstruiert, dass sie das Immunsystem in einer Weise manipulieren, dass neuerliche Infektionen nach wenigen Jahren wieder möglich sind. Denn die Antikörperantwort hält nicht lange an – die Antikörper gehen spätestens nach einigen Jahren wieder verloren. Deshalb wird man durch natürliche Infektionen gegen Coronaviren nie eine gute Herdenimmunität haben. Das heißt, wir benötigen einen Impfstoff, der eine wesentlich bessere Immunantwort auslösen muss als die Infektion mit dem Virus.
Was sagen Sie zu den Protesten zu den Corona-bedingten Einschränkungen?
Natürlich verstehe ich den Ärger über die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen. Aber hier müssen wir alle noch viel stärker aufklären, wie viel menschliches Leid durch diese vorbeugenden Maßnahmen verhindert werden konnte. Das ist ja generell das Problem der vorbeugenden Medizin, dass die nicht eingetretene Erkrankung oder der nicht eingetretene Todesfall wenig Eindruck machen. Und ob z.B. der schwedische Weg für die Wirtschaft längerfristig besser ist, ist überhaupt nicht erwiesen.
Gehen Ihnen die derzeitigen Öffnungen zu schnell?
Die politischen Entscheidungen kann ich nicht bewerten. Aus virologischer Sicht müssen diese Lockerungen mit einer möglichst engmaschigen Überwachung der Virusaktivität einhergehen – mit umfangreichen Tests, dem Nachverfolgen von Kontakten, aber auch elektronischen Hilfsmitteln wie einer Tracing App. Wenn ich damit frühzeitig Menschen warnen kann, dass sie Kontakt mit einem Infizierten hatten und sie reagieren und gehen in Quarantäne, bevor sie möglicherweise infektiös werden, kann ich damit Infektionsketten unterbrechen. Und ich erkenne Cluster und Risikosituationen rascher. Bei größeren Veranstaltungen wie Theater, Konzerte aber auch größeren Personengruppen in Kirchen sollte man sich langsam vorantasten, um zu sehen, welche Folgen einzelne Öffnungsschritte haben. Wir sollten auf keinen Fall eine zweite Welle provozieren.
Wie wahrscheinlich ist überhaupt eine zweite Welle?
Das weiß niemand genau, wir sind keine Propheten. Aber diese Gefahr besteht dann, wenn man die Viruszirkulation laufen lässt und in der kalten Jahreszeit die Voraussetzungen für eine Übertragung wieder besser werden. Wenn dann gleichzeitig die Influenza auftritt, kann es für die Krankenhäuser zu sehr schwierigen Situationen kommen. Deshalb sollten wir alleine schon aus Gründen der Verantwortung auf so ein Worst-Case-Szenario vorbereitet sein. Auf keinen Fall dürfen wir unsere Achtsamkeit aufgeben.
Zwei Impfstoff-Forschungsgruppen haben in den vergangenen Tagen von erfolgreichen Zwischenergebnissen berichtet, Testpersonen hätten schützende Antikörper produziert. Haben wir in einem Jahr einen Impfstoff?
Wir haben in einem Jahr hoffentlich Impfstoffkandidaten, die wir in kontrollierten Studien besonders gefährdeten Personen verabreichen können. Aber zu sagen, in einem Jahr wird es einen Impfstoff für alle Bevölkerungsgruppen, vom Säugling bis zum alten Menschen, geben, der sicher und effektiv ist, ist einfach nicht wahr. Normalweise gibt es Zulassungen nur für jene Gruppen, für die man ausreichend wissenschaftliche Daten hat. Dass es in einem Jahr einen Universalimpfstoff gibt, der für alle passt, ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Auch wenn in einem Jahr Studiendaten von mehreren Hundert oder Tausend Teilnehmern vorhanden sein sollten: Um die Sicherheit und Wirksamkeit eines Impfstoffes umfangreich zu testen, braucht man Zeit, und das kann durchaus Jahre dauern. Und dann: Wir haben derzeit 120 Impfstoffprojekte. Auch wenn es nur ein kleiner Teil bis zur Zulassungsphase schaffen wird, muss man ja auch noch klären, welches Präparat ist jetzt das Beste. Und es gibt auch Viren, gegen die wir bis heute keine Impfung haben – Beispiel HIV, auch damit müssen wir rechnen. Deshalb: Wenn wir in einem Jahr einen Impfstoffkandidaten hätten, den wir unter besonderen Auflagen besonders gefährdeten Menschen verabreichen können, wäre ich schon sehr froh.
Antikörper-Tests sollen anzeigen, ob man bereits eine Infektion durchgemacht hat. Kann man sich darauf verlassen?, wenn man so einen Test privat durchführen lässt?
Im Moment würde ich das noch nicht tun – auch bei den besten dieser Tests gibt es einen kleinen Anteil fehlerhafter Ergebnisse. Und es gibt Menschen, die infiziert waren, aber keine Antikörper gebildet haben. Unser Eindruck aus Zwischenergebnissen eigener Untersuchungen ist, 80 Prozent der Infizierten bilden Antikörper, aber 20 Prozent tun es nicht. Für epidemiologische Studien sind diese Tests sinnvoll, um einen Anhaltspunkt zu bekommen, wie groß der Anteil der Bevölkerung ist, der eine Infektion bereits durchgemacht hat. Da spielt eine gewisse Fehlerquelle keine Rolle. Aber als Versicherung für konkrete Menschen, ohne Gefahr einen alten oder vorerkrankten Menschen besuchen zu können, da wäre ich sehr zurückhaltend.
Was halten Sie von Spekulationen über die Herkunft des Virus – dass es im Labor hergestellt worden ist oder zwar natürlichen Ursprungs ist, aber aus einem chinesischen Labor bei einem Unfall freigesetzt wurde?
SARS-CoV-2 ist kein Virus, das sich ein Virologe ausgedacht hat – so weit sind die Virologen noch lange nicht. Es stammt aus der Natur, das ist ziemlich klar. Aus meiner Sicht spricht alles dafür, dass das Virus in der Natur einen Wirtswechsel vollzogen hat, so wie das auch in der Vergangenheit immer wieder stattgefunden hat. Das sind Naturereignisse, das ist nichts wirklich Neues. Es gibt beim Menschen fünf weitere Coronaviren, die auch alle irgendwann von Tieren auf Menschen übergegangen sind. So wie viele Virologen denke auch ich, dass das Virus ursprünglich aus der Fledermaus kommt. Ob es einen Zwischenwirt auf dem Weg zum Menschen wie den oft genannten Marderhund gibt, wird von manchen spekuliert, bewiesen ist das aber nicht.
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