IEA-Chef Birol sieht "Wendepunkt in der Geschichte der Energie"
Europa ist im Epizentrum der ersten weltweiten Energiekrise, erklärte Fatih Birol, Chef der Internationalen Energieagentur (IEA) am Montag bei seinem Besuch in Wien. Das Jahr 2022 könnte im Nachhinein aber nicht nur negativ, sondern auch als "Wendepunkt in der Geschichte der Energie" gesehen werden.
Denn die weltweiten Verwerfungen, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, hätten den Ausbau der Erneuerbaren Energieträger deutlich beschleunigt. In den kommenden fünf Jahren sind so viele neue Anlagen geplant, wie in den vergangenen 20 Jahren errichtet wurden. Ausschlaggebend sei dafür aber weniger ein Umdenken beim Klimaschutz: Erneuerbare Energieträger, insbesondere Photovoltaik seien inzwischen in vielen Regionen schlicht billiger. Da ihre Stromproduktion zweitens nicht von Importen abhänge, tragen sie auch zur Energiesicherheit bei.
Die massiven Investitionen in Staaten wie China und Indien wären dadurch motiviert, dass diese Länder eine Pionierrolle in der Zukunft der Industrie einnehmen wollen. "Kohle ist nicht mehr König", zitierte Birol in Anlehnung an ein Sprichwort, das zu seiner Studienzeit in Wien – Birol hat sein Doktorat an der Technischen Universität gemacht – noch gegolten hatte.
Europäische Solidarität nötig
Europa sollte diesen Winter mit seinen gut gefüllten Speichern überstehen, eventuell "mit ein paar blauen Flecken", meint Birol. Die Verhandlungen müssten aber deutlich beschleunigt werden, denn schon nächstes Jahr könnte es deutlich knapper werden.
Erstens, weil deutlich weniger oder gar kein russisches Gas mehr in die europäischen Speicher fließen würde, zweitens weil der heurige Herbst ungewöhnlich mild war und drittens, weil davon auszugehen sei, dass China als größter Flüssiggas-Abnehmer der Welt mit vollem Gewicht auf den Weltmarkt zurückkehrt.
Europa könnten deswegen in Summe 30 Milliarden Kubikmeter Gas fehlen. Die Zeit der Einsparungen in Industrie und Haushalten dürfte also nach diesem Winter nicht vorbei sein.
Um gegenzusteuern pocht der IEA-Chef einerseits auf europäische Solidarität. Der Fokus liege in der EU oft auf großen und wirtschaftlichen westeuropäischen Staaten, erläutert Birol im Gespräch mit den KURIER. Allerdings wären die osteuropäischen Staaten insgesamt deutlich stärker von russischen Energielieferungen abhängig und dabei noch weniger finanzkräftig. Im Sinne der europäischen Werte und auch des politischen Gewichts sei aber wichtig, dass die EU geeint auftrete.
Zweitens drängt Birol auf eine massive Beschleunigung des Erneuerbaren-Ausbaus. Vor allem die Verfahrensdauern müssten massiv verkürzt werden.
Afrika als Schlüsselregion der Energiewende
Eine besondere Rolle in der Zukunft der Energiewirtschaft wird nach Birols Einschätzung Afrika spielen. Denn nirgends sonst sind die Bedingungen insbesondere für Photovoltaik so gut. Europa hofft darauf, grünen Wasserstoff von dort einzuführen. Das könnte den afrikanischen Staaten auch gute Einnahmen bringen.
Allerdings brauche Afrika auch selbst Energie, gibt Birol zu bedenken. Die Notwendigkeit zeige sich etwa daran, dass heuer erstmals seit 20 Jahren die Anzahl der Menschen weltweit gestiegen ist, die keinen Zugang zu Strom haben.
Zudem werden viele für die Energiewende wichtige Rohstoffe, wie etwa Lithium, in Afrika abgebaut. Wenn sich Europa keinen Zugang sichert, könnte es also in die nächste Abhängigkeit schlittern. Eine Partnerschaft bietet sich nach Einschätzung Birols an, denn die Investitionen in die großen Erneuerbaren-Produktionen müssten aus reichen Ländern kommen.
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