Was China der Welt mit den Olympischen Spielen vermitteln will
"Die Olympischen Spiele werden das Thema der Menschenrechte vorantreiben", sagte der IOC-Präsident. Allerdings war das der frühere Präsident, Jacques Rogge, vor den Sommerspielen 2008 in Peking: "Die Spiele sind eine Antriebskraft für das Gute", war er überzeugt.
Vierzehn Jahre später ist die Diskussion um Gut und Böse in China aktueller denn je. Die Vorwürfe reichen von Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit über die Unterdrückung der Tibeter und der Menschenrechtsbewegung in Hong Kong bis hin zur Verfolgung der Uiguren.
Dass Jacques Rogge vor 14 Jahren meinte, die Macht des Sports würde Demokratie und Menschenrechte in China stärken, wirkt heute naiv. "Aber in der damaligen Zeit herrschte in China eine Phase der relativen Freiheit", sagt Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik im Gespräch mit dem KURIER. Zwar sei damals die Minderheit der Andersdenkenden bereits überwacht und unterdrückt worden, "aber nicht wie heute, da die breite Masse der Bevölkerung überwacht wird".
Für die meisten war nicht zu erkennen, dass der Staat "die Daumenschrauben anziehen" werde. Es sei also nicht nur Naivität gewesen, zu glauben, die Situation relativer Freiheit könnte andauern. Sondern damals sogar eine Art Realismus, so die Sinologin.
Weltbühne
Heute ist niemand mehr naiv. "Wir sind keine Weltregierung, die dafür Sorge tragen kann, dass ein souveränes Land Gesetze verabschiedet, bestimmte Standards einhält", sagt der heutige IOC-Präsident Thomas Bach nüchtern. Politik müsse man da außen vor lassen. Die Spiele seien nun mal in einem fairen Wettstreit 2015 an Peking vergeben worden. Was oft vergessen wird: Das war auch deshalb so, weil die meisten europäischen Konkurrenten – etwa Davos, München und Oslo – wegen fehlender Unterstützung der Bevölkerung freiwillig aus dem Rennen ausgeschieden sind.
Jetzt hat die chinesische Politik jene Bühne, die nur eine Sportgroßveranstaltung bieten kann. Doch was ist es eigentlich, das China auf dieser Bühne darstellen will? Die Annahme nämlich, dass es der Volksrepublik darum gehe, sich der Welt als sauberer Player zu präsentieren, ist überholt. „Das hat China nicht nötig“, sagt Journalist Mark Dreyer (Buch: "Sporting Superpower", Podcast: "China Sports Insider") in Peking. "China hat seinen Platz auf der Weltbühne längst." Darum sei es bei den Spielen 2008 gegangen, heute ist die Situation längst eine andere.
"Man vergisst oft, dass es nicht nur die Kommunikation nach außen gibt", erinnert Weigelin-Schwiedrzik. "Ja, es gibt auch diesmal wieder einen klaren politischen Hintergrund“, sagt sie. "Doch während es 2008 um das internationale Image ging, haben wir es heuer vielmehr mit einer Message nach innen zu tun." Mark Dreyer stimmt ihr zu: "Das heimische Publikum ist hier wohl wichtiger als das internationale."
Meilensteine
Denn: Der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas steht im Herbst an. Ein Riesenereignis von absoluter politischer Sprengkraft. Staatspräsident Xi Jinping will dort wiedergewählt werden. Für dieses Ziel verfolgt er eine Strategie, bei der es gilt, wichtige Meilensteine vorweisen zu können. Einer davon: das Abhalten des gigantischen Sportereignisses unter den fünf Ringen – noch dazu unter erschwerten Bedingungen (Corona).
Der Meilenstein Winterspiele schlägt sich auch in einer Zahl nieder: Die Regierung in China hat ein ungewöhnliches Wirtschaftsziel ganz oben auf die Agenda gesetzt: 300 Millionen Menschen sollten im Vorfeld der Olympischen Spiele für Wintersport begeistert werden. Dafür hat die Volksrepublik ein Maßnahmenpaket geschnürt, das Bau- und Infrastrukturpläne, PR-Strategien, ja sogar TV-Shows umfasst. 450 Eisflächen sollten gebaut werden, 340 neue Skigebiete. Als das neue Jahrtausend begann, gab es insgesamt in dem 9.597 Millionen km² großen Land nur 50 Wintersportstätten. 1996 gab es überhaupt nur ein einziges Skigebiet.
"Vergangenen Winter zählte China 17 Millionen Ski-Tage von Wintersportlern. Heuer sind sie auf bestem Weg, 25 Millionen zu erreichen. Bis 2050 sollen es laut Prognosen 50 Millionen sein", erzählt Journalist und Autor Mark Dreyer, der sich mit China als aufsteigende Wirtschaftsmacht im Bereich des Sports auch in seinem neuen Buch "Sporting Superpower" auseinandersetzt.
Chinas Sportindustrie soll die größte der Welt werden. Das soll ein Treiber für das Wirtschaftswachstum sein und so auch den weltweiten Einfluss der Volksrepublik verstärken
300 Millionen neue Wintersportler wollte China zudem im Vorfeld der Spiele begeistern. Nach eigenen Angaben will man das bereits geschafft haben
Eine einzige Skipiste hatte ganz China im Jahr 1996. Im Jahr 2016 waren es 460. Bis zu den Olympischen Spielen sollten es 800 werden. 80 Prozent der mehr als 20 Millionen Skitage im Jahr finden auf Kunstschnee statt. Gut drei Viertel der Pisten sind weniger als 100 Meter lang. 36 Indoor-Skigebiete zählt China. Kein Land hat mehr
Natürlicher Schnee existiert nur in manchen Ecken Chinas. Etwa in Xinjiang, der Provinz, in der die ethnische Minderheit der Uiguren lebt, die seit Jahren verfolgt wird. Viele Uigurendörfer mussten auch für den Tourismus weichen. Mehr als 60 Skigebiete sind dort in den vergangenen zehn Jahren entstanden
450 Eisflächen wurden zwischen 2016 und 2022 gebaut. Heute sind es insgesamt 650. Auch sie konnten mit öffentlichen Geldern aufgestockt werden. Das Ziel ist, dass jeder Mensch in China in seiner Umgebung Wintersport ausüben kann – nicht nur im Nordosten des Landes
Wirtschafts-Booster
Zielgruppe als Neo-Wintersportler: die gehobene Mittelschicht, eine wachsende "neue Elite" mit Geld und Zeit. Für Tageskarte und Leihski zahlt man rund 100 Euro. "Gerne fliegt man mal übers Wochenende Tausende Kilometer zum Skifahren", erzählt Weigelin-Schwiedrzik. Wer am Montag müde in die Arbeit kommt, wird herzlich begrüßt. Viele Arbeitgeber unterstützen das neue Hobby ihrer Mitarbeiter. Immerhin dient es der Wirtschaft.
Denn die braucht dringend einen Booster – eine Stärkung, die der Wintersport liefern soll. Da werden nicht nur völlig neue Konsumenten geschaffen, sondern eben auch Arbeitsplätze. Arbeitskräfte aus der kriselnden Immobilienbranche (siehe rechts) können abgezogen, neue Jobs, wie die des Pistenraupenfahrers oder des Schneekanonenwarts, geschaffen werden. Trotzdem stellt die neue Branche momentan eine erhebliche Belastung für China dar. Denn sie hängt davon ab, dass Massen von Skibegeisterten quer durchs Land fahren – in Pandemiezeiten undenkbar.
Bis es wieder so richtig losgehen kann, ist möglicherweise die Euphorie, die jetzt vor den Olympischen Spielen erzeugt wird, wieder dahin. Jetzt gilt es, die Neo-Wintersportler bei Laune – und auf dem Schnee – zu halten. Denn wenn man genau auf die Pisten schaut, sieht man, dass die meisten der Skifahrer und Snowboarder bunte Stofftiere auf Gesäß und Knie geschnallt haben – ein Polster für Stürze. Fast alle von ihnen sind nämlich Anfänger. Eine der nächsten großen Aufgaben wird sein, sie auf den Pisten zu halten.
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