Schon die Entstehung der modernen Olympischen Spiele im späten 19. Jahrhundert soll im Zeichen von Politik gestanden sein: "Für dieses Spektakel hat man sich bewusst auf soziologische Themen bezogen", sagt Spitaler im Daily Podcast des KURIER. "Die Idee war, dass die Gesellschaft wieder etwas gebraucht hat, das kollektive Gefühle in der Bevölkerung erwecken kann", sagt der Historiker. Ein "nationaler Zusammenhang" sollte durch Sport kreiert werden. "Natürlich ist das eine politische Idee."
Es ließe sich auch nicht vermeiden, "dass politische Fragen immer wieder auftauchen" im Sport. Immerhin sei Sport sehr stark "mit Fragen der Identitätspolitik" verknüpft.
"Sehr zahmer Boykott"
Der vermeintliche Versuch seitens des IOC oder der chinesischen Regierung, die Spiele neutral und frei von politischer Meinungsäußerung zu halten, wird in Europa und den USA sehr kritisch wahrgenommen. Insbesondere Menschenrechtsorganisationen fordern hier die freie Meinungsäußerung. Nach Ansicht von Amnesty International müssen sich die Athleten und Athletinnen frei zur Menschenrechtslage in China äußern können. "Es darf hier keinerlei Einschränkungen geben", sagte Theresa Bergmann, China-Expertin der Organisation in Deutschland. Das müsse auch für Themen gelten, die die chinesische Regierung für "sensibel" halte. "Das Internationale Olympische Komitee ist dafür verantwortlich, dies sicherzustellen."
Politikwissenschaftler Spitaler bemerkt mit Hinweis auf die "Black Lives Matter"-Bewegung, dass das IOC immerhin vor den Sommerspielen in Tokio 2021 seine Regeln angepasst habe: "Zumindest ist jetzt sportliche Meinungsäußerung rund um die Spiele erlaubt." Dass während der Spiele in China Sportlerinnen und Sportler ihre politische Meinung äußern, sei aber kaum zu erwarten.
Den angekündigten Boykott der Olympischen Spiele – unter anderem von den USA, Kanada, Neuseeland, Australien, den Niederlanden, Dänemark und zuletzt auch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock – bezeichnet Spitaler als "sehr zahm". Es sei ein "rein symbolischer Akt", der "kaum jemandem weh tut". Er erinnert an die großen Zeiten des Olympiaboykotts während des Kalten Krieges 1980 und 1984, als jeweils die westlichen Staaten bzw. die Staaten des früheren Ostblocks ihre Athleten nicht nach Moskau beziehungsweise Los Angeles schickten. Ein Boykott von Athletinnen und Athleten sei "ein ganz anderes Level" als ein politischer Boykott, weil er "das Ereignis als solches delegitimiert".
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