Hugo Portisch: "Die stärkste Waffe ist die Wahrheit"
KURIER: Was hat Journalismus in Zeiten der Sozialen Medien noch zu bieten?
Hugo Portisch: Das Internet hat der Zeitung die wichtigste Ware weggenommen, von der sie Jahrhunderte lang lebte – die Nachricht. Die Aufgabe des Journalismus heute ist: Nachrichten verständlich machen, Hintergründe liefern, berichten, wie es weitergehen könnte.
So gesehen waren Sie Ihrer Zeit voraus.
Es war mir ein Vergnügen. Im Journalismus muss viel Lust und Arbeit stecken.
Politik und Journalismus haben bei den Menschen aber Kredit verspielt. Wie gewinnen Medien die Glaubwürdigkeit zurück?
Ich war immer der Meinung, dass Fake News von der Politik gemacht werden. Journalisten müssen diese aufdecken und kritisieren. Donald Trump ist es gelungen, die Journalisten zu verteufeln – das ist auf Europa übergesprungen. Unsere stärkste Waffe ist die Wahrheit.
Ist es nicht auch gefährlich, wenn Journalisten glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben?
Es darf natürlich keine eingebildete Wahrheit sein. Also so lange recherchieren, bis man hundertprozentig überzeugt ist. Der Leser merkt schnell, ob alles stimmt, nichts korrigiert werden muss.
Gibt es einen Vorteil des gedruckten Wortes?
Ja – es lässt mich innehalten, lässt mich nachdenken, lässt es mich noch einmal lesen. Im Internet herrscht Zwang zur Eile, es ist ein Vorwärtsdrängen.
Wie kann der ORF finanziert werden, sollten die Gebühren tatsächlich fallen?
Was den ORF betrifft, so halte ich das Vorhaben, die GIS-Gebühren abzuschaffen, auf der einen Seite für einen taktischen Wahlkampf-Slogan. Auf der anderen natürlich für einen Versuch, den ORF an die Kandare zu nehmen – er wird ja auch schon verbunden mit der erklärten Absicht, die gesamte Führungsriege des ORF auszutauschen. Die Öffentlichkeit müsste sich dagegen wehren.
Es gab in Ihrer Zeit eine ganze Generation großer Journalisten, Sie waren einer davon: Hans Dichand, Otto Schulmeister, Gerd Bacher, Helmut Zilk.
Und Oskar Pollak (Arbeiter-Zeitung, Anm. der Red.). Wir waren alle eine Kategorie und auch sehr gut untereinander. Bacher, würde er hier sitzen, würde sagen: „Klar, wir waren kalte Krieger, wir haben uns durchgekämpft.“
Kalter Krieg im politischen Sinne?
Ja, wir saßen politisch alle auf derselben Seite. Wir haben nicht vergessen, dass das österreichische Volk mit 95 Prozent antikommunistisch gewählt hat. Uns haben sie mit Stalinismus nix vormachen können.
Das hat sich mittlerweile geändert, die Sympathien für Russland steigen.
Mit der Zeit beginnt halt der Hund die Hand zu beißen, die ihn füttert. Aber für uns war es ein Lebenskampf, und die Bevölkerung war hinter uns. Rundherum – in Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen, Tschechoslowakei – kam es zum Umsturz. Politiker wurden eingesperrt, Demokraten vertrieben. Es war so eindeutig, dass der Kommunismus gierig vorwärts drängte. Unsere Kommunisten waren gar nicht heikel in ihrem Bekenntnis dazu. Die haben Plakate gedruckt, die gezeigt haben, wie Europa kommunistisch wird.
Gibt es heute einen Kampf der Medien, den es sich zu führen lohnt?
Ja, gegen Donald Trump.
Da sind eh alle relativ einig.
Stimmt. Wir haben damals natürlich genau gewusst, was eine Luftbrücke heißt. Die Russen wollten die Westmächte aus Berlin hinauspressen, sie wollten die Stadt absperren, keine Kohle und kein Öl zulassen. Es war eine Heldentat, dass die Amerikaner über ein Jahr lang Hunderte Flüge eingesetzt haben, um die Zweieinhalb-Millionen-Stadt Westberlin zu versorgen. Sie haben Piloten verloren. Das war ein echter Einsatz für die Freiheit, der uns damals sehr beeindruckt hat.
Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt: „Trump regt mich wirklich auf“. Dabei hatten Sie selbst immer gute Kontakte zu Amerika, arbeiteten auch dort. Die Vorgängerzeitung des KURIER, der 1945 gegründete Wiener Kurier, war sogar ein US-Besatzungsblatt. Hans Dichand holte Sie 1954 zur neuen Nachfolgezeitung KURIER, 1958 wurden Sie hier Chefredakteur. Sie galten als „Atlantiker“.
Verwenden Sie das Wort als Schimpfwort?
Um Gottes Willen, nein!
Dann hätte ich nämlich darauf geantwortet.
Was hätten Sie denn geantwortet?
Dass das die spätere Kurzsichtigkeit der Beurteiler ist. Die Amerikaner haben die Freiheit für uns verteidigt. Es gab überall Volksaufstände, der erste in der DDR 1953. Die haben dort Steine auf russische Panzer geworfen.
Das hat man schon vergessen.
Stimmt, weil die Deutschen so wenig daraus gemacht haben. Dann kamen die Ungarn 1956, die Polen, zum Schluss die Tschechoslowaken. Wir haben ja auch immer die flüchtenden Politiker aus allen Ländern gehabt, deren Ziel Amerika war. Es war eine Selbstverständlichkeit, auf der richtigen Seite zu stehen.
Und die Betrachtung des heutigen Amerika tut Ihnen weh?
Ja sehr. Wir waren damals überwältigt von der Freundlichkeit der Amerikaner. Das war eine zivilisierte Nation. Heute ist sie zu einem guten Teil verhetzt.
Es ist ein Trend, der sich quer durch viele Staaten zieht: das Gefühl, sich wehren zu müssen, zu kurz gekommen zu sein.
Ja, das ist leider ein bisschen in Mode gekommen.
Sind wir durch den langen Frieden irgendwie wohlstandsverwahrlost?
Ja, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Wir wissen die Werte nicht mehr zu schätzen. Wir waren im Kalten Krieg immer in Kriegsangst. Die österreichische Bundesregierung hat damals sämtliche Wertgegenstände aller Wiener Museen zusammenpacken lassen und gegen den Willen aller Museumsdirektoren samt und sonders in die Schweiz gebracht, damit es die Russen nicht kriegen.
Die neuen Bedrohungen sind nicht mehr so leicht zu fassen und nicht so „real“: Cyberattacken, Handelskriege.
Das sind meistens große Schweinereien und eine andere Art der Bedrohung. Junge kennen aber Gott sei Dank keine Hungersnot mehr, Friede ist selbstverständlich.
Muss man das wieder neu erklären?
Ja, ich habe es versucht in meinem Buch „Was jetzt“.
Medien sind unbarmherziger geworden. Politische Shootingstars entzaubern sich dadurch blitzschnell. Siehe den französischen Präsidenten Emmanuel Macron oder den kanadischen Premierminister Justin Trudeau. Aber auch Kreisky & Co. war nicht fehlerlos.
Nein, keineswegs. Das liegt an der heutigen Medienkultur. Ein Politiker wird mit einer Nachricht konfrontiert und muss unmittelbar reagieren – am selben Tag, in derselben Stunde. Der Julius Raab hat nie ein Interview gegeben. Ich war auf Amerika-Reise mit ihm (als Mitarbeiter des österreichischen Informationsdienstes in New York, Anm. Red.). US-Journalisten wollten ein Interview mit dem Kanzler machen, und er hat uns gefragt: „Was soll ich da sagen?“ Die New York Times hat sich um ein Interview bei ihm angestellt. Ich weiß nicht, was wir getan hätten, um als Österreicher einmal in die New York Times zu kommen!
So bleibt man aber natürlich unangefochten und unnahbar.
Ja, aber da muss ich Ihnen jetzt eine Sünde gestehen! Der Franz Karasek war damals Sekretär vom Raab und hat mit mir gelitten. Da habe ich zu ihm gesagt: „Weißt was, wir schreiben das. Was werden die US-Journalisten den Kanzler fragen, und was würde der antworten? Das geben wir ihnen dann.“
Und dann haben Sie das Interview tatsächlich gemeinsam geschrieben? Hat Raab das denn nicht gemerkt?
Nein, er konnte ja nicht Englisch (lacht herzlich). Er hat es nicht gemerkt. Das war im November 1954, knapp vor dem Staatsvertrag. Da waren auch heikle Fragen darunter. Zwei Tage später kommt der Raab zum Frühstück und fragt: „Wann hab ich g’sagt, no comment?“ Aber es war natürlich herrlich: Österreich auf Seite eins der New York Times, ein Riesenerfolg.
Erinnern Sie sich noch die Schlagzeile?
Nein, aber sie war sicher positiv. Der Karasek hat das dem Raab später gebeichtet.
Wie beurteilen Sie die jetzige österreichische Regierung?
Die Ideen des Innenministers halte ich für demokratisch nicht tolerabel. Österreich ist ja Gott sei Dank quasi eingepackt in der EU. Aber es wird registriert, was wir tun.
Interessanterweise wurde Sebastian Kurz von US-Präsidenten Trump ins Weiße Haus eingeladen.
Das sollte man nicht herunterspielen. Aber da hat wohl auch das gute Verhältnis zum US-Botschafter in Wien eine Rolle gespielt.
Wie sagen Sie zur Lage der Briten?
Die Engländer bekommen jetzt zu spüren, wie Sie von den Demagogen und Volksverführern betrogen und belogen worden sind. Dieser Brexit war ja eine einzige Lügenkampagne. Was da erzählt wurde! Wie frei von allen Banden England sein und wie es aufblühen werde. Das Wichtigste war für das Volk: „Und die Polen hauen wir alle raus.“ In Wirklichkeit war es dieselbe „Medizin“ wie hier: „Die Flüchtlinge sind zu viel, sie bedrängen uns und nehmen uns etwas weg. Die Regierung gibt zu viel her für sie, und wir werden vernachlässigt.“
Diese Immigrationswelle hat offenbar ganz Europa gespalten und ein Misstrauen zwischen Politik und Bevölkerung und zwischen Medien und Bevölkerung erzeugt.
Das ist sehr wahr. Jeder hat das unterschätzt, zu allererst Angela Merkel. Bei ihr glaube ich war es eine Art neudeutscher Urinstinkt: Wir haben Flüchtlingen zu helfen. Wir haben Auschwitz am Buckel, das müssen wir wieder gutmachen.
Aber es hat stärkere Konsequenzen gehabt, als ihr damals bewusst war. Alle wollten plötzlich nach Deutschland.
Auf ihre Ansage „wir schaffen das“ hat sich der große Flüchtlingsstrom verzehnfacht. Das war schon eine Einladung, die sie nicht bedacht hat. Sie wollte die Gestrandeten in Budapest retten.
Was wird der EU fehlen, wenn England weg ist?
Es wird einiges fehlen, aber alle werden sich bemühen, das zu überbrücken. Nur ein kleines Beispiel: Fahren Sie nach England, überall deutsche Autos. England, war immer die Hauptstadt der Motorisierung! Ich bin seinerzeit ja einen Jaguar gefahren. Das war meine Bedingung beim damaligen KURIER-Eigentümer Ludwig Polsterer, als er mich 1958 in den KURIER zurückgeholt hat. Der Kreisky ist einen Rover gefahren und oft genug hängen geblieben. Einmal habe ich ihn auf der Autobahn aufklauben müssen. Da stand er neben seinem Auto.
In der EU driften die Kräfte stark auseinander: Auch zwischen den Ostländern und dem Rest wird die Kluft tiefer. Da spielt wohl auch China mit seiner „16 plus eins“-Initiative eine Rolle: die wirtschaftliche Zusammenarbeit 16 mittel- und osteuropäischer Staaten mit China. Kann das jemals wieder zusammengeführt werden?
Wenn es uns nicht gelingt, das zusammenzuführen, wird Europa keine gute Zukunft haben. Dazu gehört aber auch ein gewisses Verständnis. So schwer es mir fällt, den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban zu verteidigen: Aber der Nationalismus war seinerzeit die einzige Waffe, die sie gegen den Kommunismus hatten. Auch Lech Walesa und seine Solidarnosc waren ein nationaler Aufstand. Und selbst in der Tschechoslowakei wollte man einen nationalen Kommunismus mit nationalem Gesicht schaffen. Ich war überall dabei. Der Nationalismus war ein Rettungsanker. Zum Nationalstolz zählte, 70 Jahre lang gegen den Bolschewismus standgehalten zu haben. Früher kamen die Befehle aus Moskau, und jetzt aus Brüssel. Auch wenn der Vergleich nicht stimmt, empfinden sie es so.
Ist die EU-Kommission vielleicht zu unerbittlich und verständnislos – von Orban bis Brexit?
Das muss man auseinanderhalten. Was Orban betrifft, sind sie wirklich ungeschickt. Aber was die Härte im Vertrag mit Theresa May betrifft, muss die EU schon verdammt aufpassen, dass sie ihr nicht zu viel gibt, sonst kommen Nachahmer. Das dürfen wir nicht erlauben.
Halten Sie die Suspendierung der Orban-Partei aus der EVP für richtig?
Ja, für mich hat die EVP ohnedies zu lange still gehalten. Es wäre gut und richtig gewesen, Herrn Orban schon nach den ersten Verletzungen der Menschenrechte und EU-Richtlinien zur Rede zu stellen und auch mit entsprechendem Ernst zu verwarnen. Aber ich verstehe, dass die EVP wenigstens jetzt zur Suspendierung der Orban Partei entschlossen ist.
Können Journalisten etwas dazu beitragen, dass es wieder ein einiges Europa gibt? Die Menschen werfen den Medien ja jetzt schon oft genug vor, zu belehrend zu sein.
Ich sehe dieses Hindernis. Mir fällt nichts Besseres ein, als: Immer ganz scharf bei der Wahrheit bleiben. Keinen Opportunismus zulassen.
Sie haben selbst eine pädagogische Aufgabe übernommen. Müssen Medien das heute auch noch tun? Oder geht das in Zeiten der Sozialen Medien nicht mehr?
Wäre schön, wenn sie es erfüllen würden.
Die Menschen glauben den Medien aber immer weniger, die negative Energie in den Rückmeldungen, die Journalisten bekommen, ist oft sehr hoch. Was soll man damit anfangen?
Da muss ich Sie enttäuschen, dagegen habe ich auch kein Mittel.
Als Journalist ist man natürlich auch immer selbst Suchender.
Das ist gut. Und die Neugier ist ja auch unser Geschäft.
Was sagen Sie zu unserem heurigen Jubiläum: 65 Jahre KURIER?
Der damalige Chefredakteur Hans Dichand hat das richtig eingeschätzt, indem er zu mir sagte: „Eines kann ich dir sagen: Der KURIER ist unsinkbar.“ Und das finde ich auch. Er hat das Leben vieler Menschen mit geprägt und hat auch jetzt seinen Platz sehr gut gefunden.
Zur Person: Hugo Portisch
Der 92-jährige ist einer der bekanntesten Journalisten Österreichs und war von 1958 bis 1967 KURIER-Chefredakteur. Als Jungjournalist durfte er in den USA als Praktikant bei der New York Times und der Washington Post arbeiten, wurde danach stellvertretender Leiter des österreichischen Informationsdienstes in New York. In dieser Zeit, 1953, begleitete er Kanzler Julius Raab (ÖVP) bei dessen US-Besuch. Während seiner Zeit beim KURIER initiierte Portisch das Rundfunkvolksbegehren gegen den rot-schwarzen Proporz. 1967 holt ihn Gerd Bacher zum ORF, wo er Chefkommentator und Auslandskorrespondent wurde und zahlreiche Bücher schrieb. Er machte den Österreichern ihre Geschichte mit den Fernsehserien „Österreich I“ und „Österreich II“ verständlich. Logisch, dass ihn die Politik gerne als überparteilichen Präsidentschaftskandidaten geholt hätte. Doch er lehnte ab.
Kommentare