Die Zukunft der Türkei entscheidet sich am Bosporus
Fallen Wahlen in die Zeit des Ramadans, dann wird auch im Wahlkampf "gefastet": Die Parteistände verzichten auf Tee und Kaffee; die Kleinbusse, aus denen die Wahlkampflieder der Kandidaten schallen, biegen seltener um die Ecke. Stattdessen haben die Parteien riesige Iftar-Zelte aufgestellt, in denen täglich gemeinsam das Fasten gebrochen wird. Bereits Stunden vor Sonnenuntergang bilden sich Menschenschlangen davor. In Zeiten von – offiziell – 67 Prozent Inflation, wer lässt sich da ein kostenloses Essen entgehen?
Und trotzdem liegt eine Anspannung über dem Bosporus, wie die Ruhe vor dem Sturm: Denn die Bürgermeisterwahl am Sonntag ist entscheidend für die Zukunft der gesamten Türkei. Das Duell: Präsident Recep Tayyip Erdoğan gegen den aktuell populärsten Oppositionspolitiker der Türkei, der amtierende Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der säkularen, sozialdemokratischen CHP.
Hätte er, und nicht der damalige Partei-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu, bei der Präsidentschaftswahl im Vorjahr Erdoğan herausgefordert, "wer weiß, wie die Türkei heute aussehen würde", sagt einer seiner Anhänger in der Schlange vor dem Iftar-Zelt vorm Ägyptischen Bazar.
Der 52-jährige İmamoğlu gilt als ebenso begnadeter und charismatischer Redner wie Erdoğan. Er schafft es, obwohl gläubiger Muslim, auch die säkulare CHP-Elite hinter sich zu versammeln. Die Tage des Wahlkampfs sind vollgestopft mit Eröffnungen von Parkanlagen und U-Bahnen. Möglich ist das nur, weil Istanbul als 18-Millionen-Einwohner-Metropole rund ein Drittel der gesamten türkischen Wirtschaftsleistung erwirtschaftet, und somit über ein vergleichsweise großes eigenes finanzielles Budget verfügt.
Denn von der Regierung in Ankara floss seit dem Sieg der Opposition 2019 kaum mehr Geld an den Bosporus.
"Große Projekte, die vom Staat unterstützt werden sollten, wurden nicht länger finanziert.“ Oğuz Kaan Salicı kennt die Stadtpolitik, er war einst Vorsitzender der CHP Istanbul. Der KURIER erreicht ihn im 700 Kilometer entfernten Adana, wo er den lokalen Kandidaten im Wahlkampf unterstützt. "Als wir das Geld für den U-Bahn-Ausbau dann selbst aufgebracht haben, fehlte plötzlich eine Unterschrift aus Ankara zur Bewilligung. So läuft das in allen Städten, die die Opposition regiert", schildert er dem KURIER.
Istanbul, ein Herzensanliegen
Erdoğan will Istanbul nicht nur wegen der Wirtschaftsleistung zurückgewinnen: 25 Jahre lang hatte seine islamisch-konservative AKP hier das Sagen, Erdoğan wuchs im Hafenviertel Kasımpaşa auf, war in den 90er-Jahren selbst Bürgermeister. Weil er als Präsident nicht selbst fürs Amt kandidieren kann und will, schickte er den unscheinbaren, aber loyalen "Statthalter" Murat Kurum ins Rennen. In den letzten Wochen fiel dieser, wenn überhaupt, eher ungeschickt auf, etwa wenn er die Istanbuler Stadtviertel verwechselte.
Über 60 Millionen Menschen sind bei den Lokalwahlen am Sonntag wahlberechtigt. 1.363 politische Vertreter im ganzen Land werden neu gewählt, es gilt das Prinzip der einfachen Mehrheit, es gibt also keine Stichwahlen. 2019 holte die AKP 742 Gemeindevertreter, die CHP 240. Istanbul ging damals, nach 25 Jahren AKP-Vorherrschaft, an die CHP und Ekrem İmamoğlu. Erdoğan ließ die Wahl annullieren, beim 2. Durchgang gewann İmamoğlu mit 800.000 Stimmen Vorsprung. Auch die Hauptstadt Ankara ist seit 2019 in Hand der CHP, Bürgermeister Mansur Yavaş dürfte sein Amt verteidigen.
Als ehemaliger Stadtentwicklungsminister sollte Kurum auch als kompetenter Retter Istanbuls vor einem drohenden Erdbeben herhalten. Doch unter ihm wurden illegale und nicht nach Vorschrift gebaute Gebäude in einer Bauamnestie legalisiert. Viele davon begruben bei dem verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei vor einem Jahr Tausende Menschen unter sich.
Präsident macht Wahlkampf lieber selbst
Doch den Wahlkampf führte Erdoğan sowieso selbst: Er, der Präsident der Republik, tourte in den vergangenen Wochen durch das ganze Land. Auf den Plakaten und wehenden Fahnen, die über die Straßen Istanbuls gespannt sind, ist sein Gesicht neben dem Kurums abgebildet. Mal singend, immer starke Reden schwingend mischte er nationale Themen in die Lokalwahlen: Man habe "Putschisten und Terroristen zurückgeschlagen" und die Türkei "trotz der nahen Kriege zu einer Insel der Stabilität gemacht".
Vor allem den Krieg in Gaza und die Solidarität der türkischen Bevölkerung mit dem palästinensischen Volk versuchte er, für sich zu nutzen: "Israel, ein unmenschlicher Terrorstaat, massakriert unsere Brüder und Schwestern auf schändliche Weise", rief er der Menge bei einer Veranstaltung am alten Flughafen von Istanbul zu.
Das kommt nicht bei allen gut an. Die Schimpfwörter, die Serhat verwendet, wenn er über den Präsidenten spricht, werden hier nicht zitiert. Der bärtige Mann betreibt ein Café nahe einer der ältesten Synagogen Istanbuls im einst multi-religiösen Stadtteil Balat. "Nach dem 7. Oktober haben sie die Synagoge geschlossen. Was hat unsere Community damit zu tun? Die denken nicht nach und ruinieren mein Geschäft."
Die Kurden, die Königsmacher
Auch der Konflikt mit der kurdischen Minderheit spielt bei den Lokalwahlen eine Rolle – und ist ein Grund, warum die pro-kurdische, linksgerichtete DEM-Partei (frühere HDP), anders als 2019 İmamoğlu nicht mehr unterstützt. Schwer wiegt die Enttäuschung bei Murat Çepni, Istanbuler DEM-Co-Spitzenkandidat: "Wenn es um den Konflikt mit der kurdischen Minderheit geht, sagen CHP und AKP heute dasselbe. Keine der Parteien nimmt sich dem an. Wir sind die einzige Partei, die für eine wirkliche Gleichstellung aller Menschen in der Türkei und eine echte Demokratisierung steht.“
Es ist kühl an dem Tag, Çepni trägt Sakko und Schal. Der grauhaarige Mann steht im Stadtteil Ortaköy und wartet, bis der Regen aufhört, um seine Wahlkampftour fortzusetzen. Seit über zwei Jahrzehnten ist er in der Politik und saß als pro-kurdischer, HDP-Politiker dementsprechend oft im Gefängnis. Die Partei wird, egal wie sie heißt, als verlängerter Arm der von der Türkei und der EU als Terrororganisation eingestuften PKK, der militanten Arbeiterpartei Kurdistans, gesehen. Natürlich ginge es bei den Lokalwahlen auch um Themen wie Frauenhäuser, leistbares Wohnen und Leben. Aber all diese Fragen hingen mit den großen Debatten wie der Kurdenfrage zusammen: "Wie Kurden und andere Minderheiten in der Nachbarschaft behandelt werden, hat auch einen Einfluss auf die Lösbarkeit des nationalen Konflikts."
Kurdische Wähler machen in Istanbul geschätzt zehn Prozent aus. Wie viele von ihnen trotz des eigenen Kandidaten für İmamoğlu stimmen werden, entscheidet über dessen Sieg oder Niederlage. Viele gläubige, konservative Kurden sind zudem AKP-Anhänger. Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen İmamoğlu und Kurum voraus.
Präsident Erdoğan wird nicht nur von der Opposition unter Druck gesetzt, sondern auch von ehemals Verbündeten. Islamistische Kleinparteien wie die Yeniden Refah Partisi, die bei den Wahlen im Vorjahr Erdoğan noch unterstützt hat, erleben starken Zulauf und schicken in einigen Gemeinden eigene Kandidaten ins Rennen. Im Osten der Türkei ist die pro-kurdische DEM-Partei stark. Bei den Wahlen 2019 wurden zahlreiche erfolgreiche DEM-Bürgermeister nach der Wahl ab- und durch AKP-Politiker ersetzt.
"Würde man diese Wahl als Karikatur abbilden, müsste man einen Boxring zeichnen, darin Imamoğlu mit zusammengebundenen Händen und Füßen. Der Gegner schlägt auf ihn ein, und Richter und Publikum schauen zu." Die Metapher des österreichisch-türkischen Politologen Vahap Polat ist unmissverständlich. Kritiker prangern an: Die Opposition würde im staatlichen Fernsehen kaum Sendezeit bekommen, von den Staatsmedien würde Imamoğlu diskreditiert. Die AKP scheue auch nicht vor dubiosen Methoden zurück und setze Kandidaten mit ähnlichen Namen wie die oppositionellen Herausforderer auf die Stimmzettel, um die Wähler zu verwirren.
Verfassungsänderung und Politikverbot
Ein Sieg der AKP wäre verheerend für die Opposition. Imamoğlu wird bereits als Kandidat für die nächste reguläre Präsidentschaftswahl 2028 gehandelt – wenn es denn dazu käme. Polat verweist gegenüber dem KURIER auf die Verfassungsänderung, die Erdoğan plant: "Laut Gesetz dürfte Erdoğan keine weitere Legislaturperiode mehr antreten. Er wird versuchen, das zu ändern, um seine Macht zu zementieren."
So versteht der Politikwissenschafter auch die jüngste Ankündigung des 70-jährigen Präsidenten, die Kommunalwahlen würden "laut Gesetzgebung meine letzten sein". Ein freiwilliger Rückzug aus der Politik? Unwahrscheinlich. Ein Sieg der AKP in Istanbul würde Erdoğan Rückenwind für sein Vorhaben bieten.
Und selbst wenn Imamoğlu gewinnen würde, sei ihm der Sieg nicht sicher: Polat erinnert an das Politikverbot, das im Dezember 2022 wegen "Beleidigung" gegen Imamoğlu erlassen wurde und wie ein Damoklesschwert über ihm hängt. Würde dieses rechtskräftig, könnte er kein politisches Amt mehr ausüben.
Die Zukunft der Türkei, sie schwebt an diesem Sonntag über dem Bosporus.
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