Nach einem Rekordwert von 85 Prozent im Oktober 2022 war die Inflationsrate in der Türkei am Sinken – bis zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai des Vorjahres. Seitdem steigt sie wieder, auf 67 Prozent im Februar 2024, so die offiziellen Zahlen. Manche türkischen Beobachter sprechen sogar von dreistelligen Werten. Gleichzeitig befindet sich die Lira im freien Fall. Inzwischen ist ein Euro knapp 35 Lira wert. Vor einem Jahr lag der Preis bei knapp 21, vor fünf Jahren bei 6,5.
Preise wie in Westeuropa
Für die Bevölkerung heißt das: Preise, die sich ständig ändern, und teilweise auf westeuropäischem Niveau liegen. Die Preissteigerung bei Nahrungsmitteln ist höher als die Inflationsrate, das trifft ärmere Haushalte vergleichsweise stark. Die Gewerkschaft schätzt die Hungerschwelle, also die Minimumausgaben einer vierköpfigen Familie für Lebensmittel, auf 20.000 Lira im Monat.
Im Vorjahr wurde die Zwiebel – eine Grundzutat der türkischen Küche – zum Symbol der Inflation und für viele unleistbar. "Heute könnte man sagen: Alle Nahrungsmittel sind zur Zwiebel geworden", sagt Funda. Das Kilo Zwiebeln kostet an diesem Tag übrigens 70 Lira, also 2 Euro – so viel wie in österreichischen Supermärkten.
Kehrtwende der Zentralbank
Für viele Wähler wird die wirtschaftliche Lage die größte Rolle für ihre Entscheidung bei der Kommunalwahl am Sonntag spielen. Recep Tayyip Erdoğan weiß das – mittlerweile. Der Präsident verfolgt eigentlich eine islamische Wirtschaftspolitik, setzte stets auf Niedrigzinsen, reihte die Inflationsbekämpfung hinten an und fokussierte sich auf das Ankurbeln der Wirtschaft. Was ihm teilweise auch gelang: Im Vorjahr wuchs die türkische Wirtschaft um 4,5 Prozent.
Doch die Inflation galoppierte Erdoğan davon. Seit Sommer des Vorjahres ließ der Präsident deswegen die Zentralbank den Leitzins erhöhen – von 8,5 auf 45 Prozent, vergangene Woche auf 50 Prozent. Die Lira sollte wieder attraktiv für Anleger werden. Zuletzt legten viele türkische Sparer ihr Geld in stabileren Währungen im Ausland an.
Ausland fehlt Vertrauen
Noch etwas will Erdoğan damit erreichen: Vertrauen im Ausland wiedergewinnen. Das fehle vor allem bei Investoren aus dem Westen, und die fehlten wiederum in der Türkei. "Die Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratieabbau, die Verletzungen der Grundrechte: Das schreckt Investoren ab", so die Wissenschafter Jens Bastian und Yaşar Aydın von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin in einem Podcast.
➤ Drohung aus USA? Warum die Russland-Exporte der Türkei zurückgehen
Auch der Vorwurf, die Türkei würde Russland bei der Umgehung von Handelssanktionen unterstützen, spiele eine Rolle – neben fehlender Transparenz und Unabhängigkeit von Finanzinstitutionen. "Viele Menschen sind nicht überzeugt, dass die türkische Zentralbank unabhängig agiert. Genauso wenig wie die Statistikbehörde oder der Rechnungshof: Man muss darauf vertrauen können, dass die Infos und Statistiken, die man bekommt, stimmen und transparent sind."
Aktuell macht Erdoğan kaum Anstalten, diese Bedingungen zu verbessern. Im Gegenteil: Gerüchten zufolge könnte er nach der Wahl den Zentralbankchef abermals entlassen – zum sechsten Mal in fünf Jahren. Für das Ausland kein Zeichen für Stabilität, für die Bevölkerung keine Aussicht auf bald wieder leistbare Nahrungsmittel.
Kommentare