Türkei: Wählen, wenn man sich das Leben nicht mehr leisten kann
3.500 Türkische Lira hat Funda bis vor einem Jahr noch für ihre Wohnung im Istanbuler Stadtteil Şişli gezahlt. Eigentlich, sagt die 38-jährige Werbedesignerin, habe sie sich nie wirklich Gedanken über Geld gemacht. "Jetzt überlege ich mir jedes Mal genau, ob ich es mir leisten kann, auswärts essen zu gehen." Mittlerweile koste ihre Wohnung 12.000 Lira (343 Euro). Aber auch nur, weil sie den Vermieter kenne und seit Jahren in der Wohnung lebe. Üblich seien längst zwischen 17.000 und 25.000 Lira für eine vergleichbare Wohnung.
17.000 Lira netto, 487 Euro – so viel beträgt der Mindestlohn in der Türkei. Unlängst wurde er angehoben, genauso wie die Pensionen, auf 10.000 Lira (286 Euro). Doch die Inflation frisst jede Erhöhung sofort auf.
Nach einem Rekordwert von 85 Prozent im Oktober 2022 war die Inflationsrate in der Türkei am Sinken – bis zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai des Vorjahres. Seitdem steigt sie wieder, auf 67 Prozent im Februar 2024, so die offiziellen Zahlen. Manche türkischen Beobachter sprechen sogar von dreistelligen Werten. Gleichzeitig befindet sich die Lira im freien Fall. Inzwischen ist ein Euro knapp 35 Lira wert. Vor einem Jahr lag der Preis bei knapp 21, vor fünf Jahren bei 6,5.
Preise wie in Westeuropa
Für die Bevölkerung heißt das: Preise, die sich ständig ändern, und teilweise auf westeuropäischem Niveau liegen. Die Preissteigerung bei Nahrungsmitteln ist höher als die Inflationsrate, das trifft ärmere Haushalte vergleichsweise stark. Die Gewerkschaft schätzt die Hungerschwelle, also die Minimumausgaben einer vierköpfigen Familie für Lebensmittel, auf 20.000 Lira im Monat.
Im Vorjahr wurde die Zwiebel – eine Grundzutat der türkischen Küche – zum Symbol der Inflation und für viele unleistbar. "Heute könnte man sagen: Alle Nahrungsmittel sind zur Zwiebel geworden", sagt Funda. Das Kilo Zwiebeln kostet an diesem Tag übrigens 70 Lira, also 2 Euro – so viel wie in österreichischen Supermärkten.
Am Sonntag sind in der ganzen Türkei rund 64 Millionen Wahlberechtigte zu den Kommunalwahlen aufgerufen. Die auf nationaler Ebene regierende, islamisch-konservative AK-Partei will vor allem die wirtschaftlich starken Städte zurückgewinnen: Ankara, Izmir, Antalya und allen voran Istanbul, wo fast ein Drittel der türkischen Wirtschaftsleistung erwirtschaftet wird.
Die hohe Inflation und die schwache Türkische Lira machen der Bevölkerung zu schaffen: Laut Gewerkschaft liegt der Mindestlohn (17.000 Lira) mittlerweile unter der Hungerschwelle (20.000 Lira). Vor allem Pensionisten sind von Armut bedroht, viele müssen trotz hohen Alters nebenbei arbeiten. Sie könnten Erdoğans AKP bei den Wahlen abstrafen.
Kehrtwende der Zentralbank
Für viele Wähler wird die wirtschaftliche Lage die größte Rolle für ihre Entscheidung bei der Kommunalwahl am Sonntag spielen. Recep Tayyip Erdoğan weiß das – mittlerweile. Der Präsident verfolgt eigentlich eine islamische Wirtschaftspolitik, setzte stets auf Niedrigzinsen, reihte die Inflationsbekämpfung hinten an und fokussierte sich auf das Ankurbeln der Wirtschaft. Was ihm teilweise auch gelang: Im Vorjahr wuchs die türkische Wirtschaft um 4,5 Prozent.
Doch die Inflation galoppierte Erdoğan davon. Seit Sommer des Vorjahres ließ der Präsident deswegen die Zentralbank den Leitzins erhöhen – von 8,5 auf 45 Prozent, vergangene Woche auf 50 Prozent. Die Lira sollte wieder attraktiv für Anleger werden. Zuletzt legten viele türkische Sparer ihr Geld in stabileren Währungen im Ausland an.
Ausland fehlt Vertrauen
Noch etwas will Erdoğan damit erreichen: Vertrauen im Ausland wiedergewinnen. Das fehle vor allem bei Investoren aus dem Westen, und die fehlten wiederum in der Türkei. "Die Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratieabbau, die Verletzungen der Grundrechte: Das schreckt Investoren ab", so die Wissenschafter Jens Bastian und Yaşar Aydın von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin in einem Podcast.
➤ Drohung aus USA? Warum die Russland-Exporte der Türkei zurückgehen
Auch der Vorwurf, die Türkei würde Russland bei der Umgehung von Handelssanktionen unterstützen, spiele eine Rolle – neben fehlender Transparenz und Unabhängigkeit von Finanzinstitutionen. "Viele Menschen sind nicht überzeugt, dass die türkische Zentralbank unabhängig agiert. Genauso wenig wie die Statistikbehörde oder der Rechnungshof: Man muss darauf vertrauen können, dass die Infos und Statistiken, die man bekommt, stimmen und transparent sind."
Aktuell macht Erdoğan kaum Anstalten, diese Bedingungen zu verbessern. Im Gegenteil: Gerüchten zufolge könnte er nach der Wahl den Zentralbankchef abermals entlassen – zum sechsten Mal in fünf Jahren. Für das Ausland kein Zeichen für Stabilität, für die Bevölkerung keine Aussicht auf bald wieder leistbare Nahrungsmittel.
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