Im Wahlkampf war die Zwiebel zu ungewolltem Ruhm gekommen: Die Opposition nutzte sie symbolisch für die hohe Inflation und schlechte wirtschaftliche Lage im Land – weil das Grundnahrungsmittel für Teile der Bevölkerung zeitweise nicht mehr leistbar war, sich der Preis für einen Kilo in zwei Jahren verneunfacht hatte.
Seit ein paar Monaten sinkt die Inflation, die im Vorjahr bei teilweise 85 Prozent lag, zwar leicht (Mai 2023: 39,6 Prozent). Doch dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan irgendwann von seiner Niedrigzinspolitik, die er jahrelang entgegen aller marktliberalen Lehrbücher geführt hat, absehen muss, um die Türkei und ihre Bevölkerung vor einem wirtschaftlichen Kollaps zu bewahren, schien unumgänglich. Am Donnerstag kam dann die von vielen Ökonomen lang ersehnte Entscheidung: Die türkische Zentralbank werde den Leitzins von 8,5 auf 15 Prozent anheben, kündigte die neue Notenbank-Chefin Hafize Gaye Erkan an.
Seit der Ernennung von Mehmet Şimşek zum neuen türkischen Finanzminister war damit gerechnet worden: Şimşek war schon einmal Wirtschafts- und Finanzminister, zuletzt sogar stellvertretender Regierungschef unter Erdoğan, und gilt als orthodoxer, rationaler Ökonom, der das Vertrauen der Finanzmärkte genießt – und sich traut, Erdoğan auch mal zu widersprechen.
Doch ganz dürfte er sich gegenüber dem Präsidenten, der sich selbst als "Zinsfeind" bezeichnet, nicht durchgesetzt haben, meint Meryem Gökten, Ökonomin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, zum KURIER: "Sonst wäre die Anhebung noch stärker gewesen, auf 30 bis 40 Prozent" – so wie es Beobachter empfohlen hatten, um die Inflation zu senken. Internationale Investoren zeigten sich enttäuscht.
Gökten rechnet in den kommenden Monaten mit weiteren Anhebungen, "allerdings nicht über 25 Prozent bis Ende des Jahres". Die Inflation, rechnet sie vor, werde bis dahin wohl auf 35 bis 30 Prozent sinken – weit entfernt vom einstelligen Bereich, den Erdoğan versprochen hat.
Die Erhöhung sei vor allem ein Zeichen für ausländische Investoren, betont die Ökonomin: "Die Türkei ist extrem auf ausländisches Kapital angewiesen, nur dadurch wird auch die Lira wieder stabilisiert werden.“ Vor ein paar Jahren waren 200 Lira noch mehr als 100 Euro wert, heute sind es keine acht mehr. Nach Verkündigung der Zinserhöhung verlor die Lira abermals an Wert, rutschte auf ihren bisher schwächsten Wert gegenüber dem US-Dollar (24 Lira pro Dollar).
Die Bevölkerung selbst profitiere mehr von der Erhöhung der Mindestgehälter, die diese Woche angekündigt wurde. Die Leitzinserhöhung würde sie, wenn überhaupt, nur an der Erhöhung der Zinsen für die Kreditkarten, die die Türken, ähnlich wie die Amerikaner, in Hülle und Fülle besitzen, merken.
Im Übrigen, betont Gökten, ließe sich die wirtschaftliche Lage nicht allein durch einen höheren Leitzinssatz lösen – "man denke nur an Argentinien", wo der Leitzins bei rund 90 Prozent, die Inflation bei über 100 Prozent liegt. Es bestehe immer die Gefahr einer Rezession.
"Für ausländisches Kapital und eine Stabilisierung der Wirtschaft braucht es auch eine vertrauensvolle Politik, politische Reformen, aber auch ein positives Auftreten der Regierung Richtung Ausland", so Gökten. Nur so würde auch die Zwiebel langfristig wieder leistbar werden.
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